Justiz

EuGH: EU-Staaten dürfen das Schächten verbieten

Das Urteil der obersten Richter der Europäischen Union ist verbindlich für alle 27-EU-Mitgliedsstaaten. Foto: imago images/Horst Galuschka

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am Donnerstag das Verbot des rituellen Schächtens in zwei der drei belgischen Regionen als vereinbar mit dem EU-Recht angesehen. »Die Mitgliedstaaten können zur Förderung des Tierwohls im Rahmen der rituellen Schlachtung, ohne gegen die in der Charta verankerten Grundrechte zu verstoßen, ein Verfahren einer Betäubung vorschreiben, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen«, lautete der Tenor des Urteils der Großen Kammer des Gerichts in Luxemburg.

Zwar stehe das Dekret in Flandern, das eine Betäubung von Schlachttieren zwingend vorschreibt, im Widerspruch zu den religiösen Geboten von Juden und Muslimen und stelle damit »eine Einschränkung des Rechts auf Religionsfreiheit« nach Artikel 10 der Grundrechte-Charta der EU dar, so die Richter.

Das rituelle Schlachten von Nutztieren bleibe aber weiterhin nach dem EU-Recht erlaubt und werde auch in Belgien nicht angetastet, befand das höchste EU-Gericht. Den Mitgliedsstaaten stehe es dennoch frei, eine vorherige Betäubung vorzuschreiben, da dies einer »von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung«, namentlich dem Tierwohl, diene und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fuße. Deshalb sei ein solcher Eingriff in die Religionsfreiheit zulässig und mit EU-Recht vereinbar.

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Den Einwand, dass bei der Jagd auf Wildtiere auch keine verpflichtende Betäubung vorgesehen ist, ließen die Luxemburger Richter nicht gelten. Für die Erzeugung von Fleisch sei das wirtschaftlich irrelevant, und die Umstände der Tötung anders als im Falle von Nutztieren. Das Urteil der obersten EU-Richter macht damit grundsätzlich den Weg frei für Mitgliedsstaaten, die ausnahmslose Betäubung von Schlachttieren vorzuschreiben.

Vor drei Jahren hatten die beiden größten belgischen Regionen, Flandern und Wallonien, ein Verbot des Schlachtens von Tieren ohne vorherige Betäubung verhängt, wie sie die Halacha vorsieht. Zuvor hatte es für das rituelle Schächten Ausnahmen gegeben, die bislang auch in den meisten anderen europäischen Ländern bestehen. Aus diesen darf nach EU-Recht auch weiterhin geschächtetes Fleisch nach Belgien importiert werden. Dies stellten auch die Luxemburger Richter in ihrem Urteil fest.

KLAGE Gegen das Verbot in Flandern, das dort von einer breiten Koalition politischer Parteien verabschiedet wurde, hatten jüdische und muslimische Dachverbände Klage vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. Sie sahen sich in ihren Grundrechten, insbesondere in Bezug auf die Freiheit der Religionsausübung, verletzt. Das oberste belgische Gericht legte die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor.

Das Schächten ohne vorherige Betäubung ist aktuell in Belgien nur noch in der Hauptstadtregion Brüssel gestattet. Koscher geschlachtet wird dort aber nicht; das nach den jüdischen Speisegesetzen hergestellte Fleisch wird aus dem Ausland eingeführt. Das wird auch künftig so bleiben.

ANTWERPEN Vor allem die in Flandern dominante Partei NVA hatte ein Verbot des Schlachtens ohne Betäubung vorangetrieben – offenbar mehr mit Blick auf die muslimische Bevölkerung denn auf die jüdische. Im vergangenen Jahr hatte der NVA-Vorsitzende, Antwerpens Bürgermeister Bart De Wever, angedeutet, dass er sich mit einer Ausnahme für den Bedarf der jüdischen Gemeinde an koscherem Fleisch anfreunden könnte.

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Der Jüdischen Allgemeinen sagte De Wever im Mai 2019: »Wir waren uns schlicht nicht bewusst, wie sehr das [Schächtverbot] die jüdische Gemeinde hier betrifft.« In Antwerpen leben rund 20.000 überwiegend streng religiöse Juden. Eine Änderung des flämischen Gesetzes ist mit dem Urteil des EuGH nun aber unwahrscheinlich geworden.

Der in Flandern für Tierschutz zuständige Minister von der NVA, Ben Weyts, freute sich auf Twitter ausdrücklich über die Signalwirkung des Richterspruchs: »Wir schreiben heute Geschichte. Der Europäische Gerichtshof bestätigt, dass das flämische Verbot des Schlachtens ohne Betäubung nicht gegen europäisches Recht verstößt. Dies bedeutet, dass jetzt europaweit die Tür für ein Schlachtverbot ohne Betäubung geöffnet ist«.

AUSWIRKUNGEN Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, kritisierte das EuGH-Urteil dagegen scharf. »Diese Entscheidung steht im Widerspruch zu den jüngsten Erklärungen der europäischen Institutionen, dass jüdisches Leben geschätzt und respektiert werden solle«, sagte Goldschmidt. Der Versuch der europäischen Richter, die Schechita, das religiöse Schlachten, zu definieren, sei »absurd«.

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»Wir alle sind uns des Präzedenzfalls bewusst, der damit geschaffen wird und der unsere Rechte auf die Freiheit der Religionsausübung in Frage stellt.« Die jüdischen Gemeinden in ganz Europa würden bald die Auswirkungen des Urteils zu spüren bekommen, so Goldschmidt in einer Stellungnahme. Die Verbote hätten bereits zu Versorgungsengpässen mit koscherem Fleisch während der Corona-Pandemie geführt.

»Europas Politiker beteuern immer wieder, den Wert und die Bedeutung der jüdischen Gemeinden für Europa, doch sie bieten keine Garantien für unsere Lebensweise. Europa muss sich selbst fragen, welche Werte es künftig vertreten will. Wenn Werte wie die Religionsfreiheit und Vielfalt ein integraler Bestandteil sein sollen, dann spiegelt dies die derzeitige Rechtsauffassung und Rechtsprechung nicht wider und muss dringend überarbeitet werden«, erklärte Goldschmidt.

ENTTÄUSCHUNG Der belgische jüdische Dachverband CCOJB, der gegen das Dekret geklagt hatte, kommentierte auf Twitter das Urteil lapidar mit den Worten »Europa enttäuscht.« CCOJB-Präsident Yohan Benizri warf den Luxemburgger Richtern ein »Einknicken vor bestimmten Partikular- und Wählerinteressen« vor. Man hätte erwartet, dass die Grundrechte besser geschützt würden, so Benizri. Eine Demokratie messe sich an dem Respekt, dem sie ihren Minderheiten entgegenbringe. »Der Kampf geht weiter, und wir geben uns erst dann geschlagen, wenn alle rechtlichen Möglichkeiten erschöpft sind.«

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Moshe Kantor, der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) erklärte in einer ersten Reaktion auf das Urteil: »Das Recht, unseren Glauben und unsere Bräuche zu praktizieren, eines, das uns über viele Jahre hinweg zugesichert wurde, wird durch diese Entscheidung ernsthaft untergraben«.

Dies sei »ein schwerer Schlag für das jüdische Leben in Europa und sagt den Juden im Wesentlichen, dass unsere Praktiken nicht mehr willkommen sind«. Das sei »nur ein kurzer Schritt davon entfernt, Juden zu sagen, dass wir hier nicht mehr willkommen sind.« Der EJC-Präsident weiter: »Europas jüdische Gemeinden werden nicht ruhen, bis unsere Grundrechte durchgesetzt und vollumfänglich durch das europäische Recht geschützt sind.«

ANGRIFF Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, übte ebenfalls massive Kritik an dem Urteil und sprach von einem Angriff auf die Religionsfreiheit. Man hoffe, dass es keine Nachahmer in Europa finde und andere EU-Staaten die religiöse Schlachtung weiterhin ermöglichten.

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Das American Jewish Committee sprach von einem »schwarzen Tag« für das europäische Judentum. Der AJC-Vertreter in Brüssel, Daniel Schwammenthal, sagte, er habe nicht geglaubt, dass so kurz nach der Schoa wieder »ein europäisches Gericht ein zentrales jüdisches Ritual verbieten würde«.

Auch der Präsident des Europäischen Jüdischen Studierendenbundes (EUJS) zeigt sich entsetzt. »Das Verbot des koscheren Schächtens könnte jüdisches Leben in Europa, wie wir es kennen, auf Dauer unmöglich machen«, erklärte der Österreicher Bini Guttmann. »Die Religionsfreiheit sollte einer der Kernwerte der EU sein. Die Entscheidung des EuGH steht im krassen Gegensatz dazu. Das koschere Schächten ist ein zentraler Bestandteil des Judentums, ein Verbot dieser Praxis ist ein klares Signal, dass die Grundrechte von Juden in der EU beschnitten werden können«, so Guttmann. mth

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