Litauen

»Umschreiben der Geschichte«

Moskaus Oberrabbiner und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt Foto: imago images/Independent Photo Agency Int.

Im litauischen Parlament, dem Seimas, gibt es offenbar Bestrebungen, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, in dem jedwede Beteiligung staatlicher litauischer Stellen an der Verfolgung und Ermordung von Juden während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg abgestritten wird.

Eine Seimas-Kommission erarbeite gerade einen entsprechenden Text, berichten zahlreiche Medien. Der Vorsitzende der Parlamentskommission für den Freiheitskampf und das staatliche historische Gedächtnis, Arunas Gumuliauskas, hatte im Dezember erklärt: »Der litauische Staat hat nicht am Holocaust teilgenommen, weil er besetzt war. Genauso wenig konnte die litauische Nation am Holocaust teilgenommen haben, denn sie war versklavt.«

besatzung Litauen habe während des Zweiten Weltkriegs und im Anschluss daran zwei Besatzungen verkraften müssen, »die nationalsozialistische und die sowjetische«, sagte der Abgeordnete des Bundes der Bauern und Grünen damals. Die Haltung Litauens zum Holocaust könne daher nicht dieselbe sein wie die des Westens.

Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, nannte Gumuliauskas Vorhaben einen »direkten Affront« gegen jene Hundertausende von litauischen Juden, die von den Nazis »mithilfe der politischen und militärischen Führer Litauens und auch der örtlichen Bevölkerung« ermordet worden seien.

Der Gesetzentwurf von Gumuliauskas ziele darauf ab, die Beteiligung litauischer Bürger am Holocaust zu leugnen. Das sei eines EU-Landes nicht würdig, sagte Goldschmidt der »Jüdischen Allgemeinen«. Man könne das »Umschreiben der Geschichte zu politischen Zwecken nicht akzeptieren«. Antisemitismus sei in Litauen offenbar wieder salonfähig geworden. Anders könne man »den Versuch des litauischen Parlaments zur Gesichtsfälschung« nicht erklären, erklärte der Oberrabbiner in scharfen Worten.

Litauens Hauptstadt Vilnius war einst ein bedeutendes jüdisches Zentrum und galt als »Jerusalem des Nordens«. Von den 220.000 litauischen Juden überlebten weniger als zehn Prozent die Schoa. Noch heute zählt die jüdische Gemeinde des Landes kaum mehr als 2000 Mitglieder.

Für die 91-jährige Schoa-Überlebende Rosa Bloch ist die jetzt entbrannte Debatte eine Spätfolge des polnischen Vorgehens.

debatte Für die 91-jährige Schoa-Überlebende Rosa Bloch ist die jetzt entbrannte Debatte eine Spätfolge des polnischen Vorgehens. Vor knapp zwei Jahren hatte das Parlament in Warschau ein ähnlich gelagertes Gesetz verabschiedet, welches hohe Wellen schlug und Polens Beziehungen zu Israel massiv verschlechterte. Das Gesetz drohte all jenen (auch Historikern), die Polen für die Verbrechen NS-Verbrechen mitverantwortlich machten, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren. Nach Protesten wurde es später entschärft.

»Die Litauer haben gesehen, wie gut das in Polen funktioniert hat, und deshalb machen sie das jetzt auch«, sagte Bloch der Nachrichtenagentur JTA. Das sei umso bedrückender, als die Litauer im Zweiten Weltkrieg »aktive und grausame« Kollaborateure der Deutschen bei der Verfolgung von Juden gewesen seien. »Es gibt heute keinen litauischen Juden, der nicht Verwandte verloren hat, die von litauischen Mördern umgebracht wurden«, so die Überlebende des jüdischen Ghettos von Kovno (Kaunas).

Auch für die litauische Schriftstellerin Ruta Vangaite wäre es ein »Hohn«, sollte das Gesetz verabschiedet werden. Jeder wisse, dass die damalige litauische Regierung schon in der ersten Woche nach dem deutschen Einmarsch im Juni 1941 ein Konzentrationslager für Juden errichtet und eine Spezialeinheit zur Tötung von Juden ins Leben gerufen habe. »Das war die litauische Regierung, und jeder weiß das.”

Auch für die litauische Schriftstellerin Ruta Vangaite wäre es ein »Hohn«, sollte das Gesetz verabschiedet werden.

gesetz Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Litauens, Faina Kukliansky, wollte das mögliche neue Gesetz nicht kommentieren. »Wir kennen den Entwurf nur aus der Presse, sagte sie dem Nachrichtenmagazin »Alfa«. »Es fällt uns sehr schwer, das Ganze zu beurteilen, denn wir wissen nicht, was wirklich darin steht.«

Kukliansky bedauerte aber die Folgen der nun losgetretenen Debatte. »Wir haben nie behauptet, dass alle Litauer Juden umgebracht hätten, wir haben nie von kollektivem Handeln gesprochen. Aber es gab Menschen, die an Massakern von Juden teilgenommen haben.« Ein solches Gesetz habe überhaupt keine Geschäftsgrundlage. Die Diskussion sei unnötig und führe »eindeutig zu weit,« erklärte sie.

Gegenüber der »Jerusalem Post« bedauerte die Gemeindevorsitzende, dass es bislang kaum Widerstand gegen das Vorhaben gegeben habe. »Wenn jetzt alle dazu schweigen, erinnert uns Juden das an die Situation im Land vor dem Krieg.«

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

Philosophie

Der Moment des Staunens

Am 13. Juli jährt sich der Geburtstag von Jeanne Hersch zum 115. Mal. Lange wurde die Existentialistin ausgerechnet von der akademischen Forschung marginalisiert – und kaum als jüdische Philosophin wahrgenommen

von Richard Blättel  11.07.2025

Spanien

»Haut ab, ihr Hurensöhne« - Wirt vertreibt Israelis

Ein Gastwirt rastet gegenüber einer Gruppe israelischer Touristen aus, beschimpft sie und verweist sie des Lokals

von Michael Thaidigsmann  11.07.2025

Nachruf

Er bleibt eine Inspiration für uns alle

Der langjährige Zürcher Gemeinderabbiner Marcel Ebel ist verstorben. Eine Würdigung von seinem Nachfolger

von Rabbiner Noam Hertig  10.07.2025

Australien

Judenhass in Down Under

Mit unerwarteter Brutalität und Hemmungslosigkeit breitet sich der Antisemitismus im Land aus. Doch die jüdische Gemeinschaft gibt nicht auf

von Amie Liebowitz  10.07.2025

Großbritannien

BeTe’avon!

Das Jewish Museum London bittet britische Juden um Rezepte fürs Schabbatessen. Auf der Suche nach dem, was schmeckt

von Sophie Albers Ben Chamo  10.07.2025

USA

Die US-Regierung, Trump und der Fall Jeffrey Epstein

Trump wollte die Akten zum Sexualstraftäter Epstein veröffentlichen, seine Mitarbeiter verbreiteten Verschwörungstheorien. Nun wollen sie davon nichts mehr wissen - das macht einige Trump-Fans wütend

von Benno Schwinghammer  09.07.2025

Spanien

Mallorca hat einen neuen Rabbiner

Rund 1000 Juden leben auf der bei deutschen Touristen beliebten Baleareninsel

 09.07.2025

Österreich

»Geschichte wurde schon immer politisiert«

Die US-Historikerin Sarah Abrevaya Stein über Gier, Künstliche Intelligenz und den Baron-Wissenschaftspreis

von Stefan Schocher  09.07.2025

Iran

Esthers Kinder

Wie die älteste Diaspora-Gemeinschaft 2700 Jahre überlebte – und heute erneut um ihre Existenz kämpft

von Stephen Tree  09.07.2025