Zeitzeuge

Trauer um Paul Sobol

Paul Sobol sel. A. (1926–2020) Foto: imago/Belga

Es gibt ein paar deutsche Wörter, die hat Paul Sobol auch nach vielen Jahrzehnten nicht vergessen. »Untermenschen« ist so ein Wort, oder »Stück«. Nur einmal hat er in Deutschland seine Geschichte von Auschwitz erzählt, Anfang 2020 bei der Israelitischen Gemeinde in Freiburg. Nun ist Paul Sobol, Zeitzeuge und Überlebender, im Alter von 94 Jahren gestorben.

Brüssel, wo er bis zu seinem Tod wohnte, war ihm schon lange Heimat. Er zog mit seiner Familie dorthin, als er ein kleiner Junge war. Davor hatte er, im Juni 1926 geboren, mit seinen Eltern, der zwei Jahre jüngeren Schwester und dem fünf Jahre jüngeren Bruder in Paris gelebt.

Alle anderen Verwandten hat er nie kennengelernt: Der Vater war aus Warschau nach Paris gekommen, die Mutter aus einem kleinen russischen Dorf. Die Eltern zogen weiter nach Brüssel, dort wuchsen die drei Kinder auf. Der Vater bearbeitete Pelze, das sicherte den Lebensunterhalt.

EISLAUFEN Als 1940 die deutsche Besetzung begann und 1942 die Razzien und Deportationen zunahmen, sagte sein Vater: »Wir müssen unsichtbar werden. Man darf uns nicht bemerken.« Er fand eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in einer ruhigen Straße, dort lebten sie zu fünft. Doch Paul Sobol war 16 Jahre alt, sportlich und unternehmungslustig. Er wollte sich nicht in zwei Zimmern einsperren lassen. Und so ging er hinaus, ein gefälschter Pass schützte ihn. »Beim Sport habe ich den Krieg vergessen können«, sagte er einmal.

Ganz besonders galt das für die Sonntage, an denen er Eislaufen ging: Er tauchte ein in eine Gegenwelt, als er sich dort mit einer Gruppe katholischer Jugendlicher anfreundete, vor allem mit einem Mädchen namens Nelly. Zu Paul Sobols 18. Geburtstag schickte sie ihm ein Päckchen mit Kuchen, Früchten und einem Foto von sich.

Ein paar Tage vorher war seine bisherige Welt zusammengebrochen: Die Familie war denunziert worden, im Juni 1944 kam die Gestapo und brachte die Sobols ins Lager nach Mechelen. Trotzdem kam Nellys Päckchen bei ihm an. Ihr Foto begleitete ihn seitdem durch alles, was darauf folgte, es war das Einzige, was ihm blieb. Immer wieder beschreibt er, wie es ihm gelang, das Foto zu retten.

MUTTER Als die Sobols am 31. Juli 1944 mit Hunderten anderer Menschen in Güterwaggons gepfercht wurden, wussten sie nicht, wohin sie gebracht wurden. Der Zug fuhr durch Belgien und Deutschland nach Polen. In der dritten Nacht, als der Zug hielt und sich die Türen öffneten, hörte Paul Sobol einige der deutschen Worte, die er danach nie mehr vergessen hat, Befehle in barschem Ton.

Bis an sein Lebensende begleiteten ihn diese Bilder.

Bis an sein Lebensende begleiteten ihn diese Bilder, wie Hunderte von Menschen wie eine Herde Tiere herumgetrieben wurden, wie er und sein Bruder nach rechts gehen mussten und seine Mutter und seine Schwester nach links. Er hat seine Mutter nie wiedergesehen.

Am Ende des Krieges war Paul Sobol noch nicht einmal 19 Jahre alt, er fühlte sich sehr allein. Geblieben war ihm nur das Foto von Nelly und vor allem die Erinnerung an sie. Die beiden trafen sich wieder: Sie heirateten und verbrachten ihr ganzes Leben zusammen, ein langes und ausgefülltes Leben, bis Nelly vor acht Jahren starb.

BUCH Nach außen deutete lange nichts auf seine Vergangenheit hin: Paul Sobol und Nelly heirateten 1947, bekamen zwei Kinder und später drei Enkelkinder. Er arbeitete in der Werbung und gründete eine Werbeagentur. Erst nach mehr als 40 Jahren fing er zu sprechen an über das, was hinter ihm lag: Auschwitz, der Todesmarsch, das KZ Dachau, die Odyssee nach der Befreiung, die ihn über französische Lager schließlich im Mai 1945 nach Brüssel führte.

Seit 1987 trat Paul Sobol als Zeitzeuge an Schulen auf, wurde Mitglied der Auschwitz Foundation und begann, an den jährlichen Studienreisen nach Auschwitz teilzunehmen. 2010 schrieb er sein Buch Je me souviens d’Auschwitz. Eine deutsche Übersetzung steht noch aus.

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Imanuels Interpreten (13)

Herb Alpert: Der Universalkünstler

Vom Trompeter zum Philantropen: Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Kalifornien erreichte in den 90 Jahren seines bisherigen Lebens viel

von Imanuel Marcus  10.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025

Belgien

Aus der Straße des Antisemiten wird die Straße der Gerechten

In Brüssel gibt es jetzt eine Rue Andrée Geulen. Sie ist nach einer Frau benannt, die im 2. Weltkrieg mehr als 300 jüdische Kinder vor den deutschen Besatzern rettete. Doch bei der Einweihung herrschte nicht nur eitel Sonnenschein

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Vuelta

Spanischer Radprofi Romo stürzt wegen Protestaktion

Die »propalästinensischen« Proteste bei der Spanien-Rundfahrt nehmen kein Ende. Auf der 15. Etappe ist es zu Stürzen gekommen

 07.09.2025