Österreich

Sinnlich und übersinnlich

Zuerst beugt sich der weibliche Körper, wird ganz rund, um sich dann wieder zu strecken; danach wiegt sich der männliche Körper nach vorn und nach hinten, und unweigerlich kommt einem als Zuschauer ein religiöses Moment in den Sinn. Eine Symbiose zwischen Menschlichem und Metaphysischem. Es ist diese Transzendenz, die in den Bewegungen zum Ausdruck kommt, die den Tanz sinnlich und übersinnlich zugleich macht. Dass da auf der Bühne gerade die Geschichte von Adam und Eva »erzählt« wird, scheint die logische Konsequenz dieses andächtig-sinnlichen Spiels der Körper, das den Titel »Eden« trägt.

Es ist die erste Langchoreografie von Adi Hanan. Die israelische Balletttänzerin am Wiener Staatsballett spielt dabei ganz bewusst mit dieser Vereinigung von Mann und Frau und spiegelt sie am nicht selbstverständlichen Dualismus von weiblich und männlich. »Es ging mir darum, beides aufzuzeigen. Das Verspielte des Maskulinen, mit seiner explosiven Energie und etwas Wildem. Dem gegenüber steht das Weibliche, das Feinere, Sanftere und Rundere«, sagt Hanan. Sie sei sich der Stereotype, die sich dabei eröffnen, durchaus bewusst.

»Ich bin der Überzeugung, dass eine Frau nicht einfach nur Frau ist, genauso wie ein Mann nicht einfach nur Mann.«

Darum arbeite sie gleichzeitig auch an deren Auflösung, weshalb sie Frauen in der Männergruppe genauso wie Männer in der Frauengruppe tanzen lässt. »Ich bin der Überzeugung, dass eine Frau nicht einfach nur Frau ist, genauso wie ein Mann nicht einfach nur Mann. Jeder Mensch trägt beides in sich. Das wollte ich aufzeigen, auch um dem Publikum die Frage mit auf den Weg zu geben, was diese Vermischung der Geschlechter bedeutet.«

Entstanden ist daraus eine Sequenz, die sich tanzhistorisch als Mittelteil in das tänzerische Triptychon Les Sylphides einreiht, das kurz vor Saisonende seine Premiere an der Wiener Volksoper feierte. Les Sylphides, auch »Chopiniana« genannt, ist ein kurzes, abstraktes Ballet Blanc (alle Tänzer tragen Weiß). Die Originalchoreografie stammt von der russisch-amerikanischen Ballett-Legende Michel Fokine (1880–1942). Als Musik dienten Klavierkompositionen von Frédéric Chopin. Die musikalische Welt­premiere leitete 1893 der russische Komponist Nikolai Rimski-Korsakow.

Die erste Liebesgeschichte der Menschheit

Adi Hanan setzte sich davon ab und wählte Franz Schubert, genauer »Der Tod und das Mädchen«. So lenkte sie einen frischen Blick auf die erste Liebesgeschichte der Menschheit. »Für ›Eden‹ teilte ich die biblische Erzählung vom Paradies in drei Bewusstseinszustände ein. Angefangen beim bloßen Sein, einem noch sehr rohen und animalischen, man könnte auch sagen naiven Zustand. Der zweite Teil handelt von der Sünde und vom Moment unmittelbar davor.«

Und schließlich, im letzten Kapitel, gehe es um die Erforschung des Verlustes der Unschuld und die Bewusstwerdung des eigenen Körpers, nachdem die ersten Menschen den Baum der Erkenntnis berührt haben, erklärt die Choreografin, die Ensemblemitglied des Wiener Staatsballetts ist. Dabei habe sie stets abgeklärt, wie die tänzerische Ausdrucksweise in ihrem eigenen Körper wirke.

Die Geschichte von Adam und Eva übersetzt Adi Hanan nicht nur im Tanz. Sie halle schon sehr lange in ihrem Kopf nach, sagt die 35-Jährige, die in der Nähe von Haifa geboren wurde. »Wenn man in Israel aufwächst, kommt man nicht umhin, sich mit Adam und Eva auseinanderzusetzen.« Schon in der Schule, wo die biblischen Stoffe bereits früh Thema sind, habe sie sich mit der immer wiederkehrenden Frage nach der jüdischen Identität beschäftigt. »Man ist jüdisch, wenn man als Kind einer jüdischen Mutter geboren wurde. So will es die Halacha. Aber diese Antwort stellte mich nicht zufrieden«, sagt Hanan.

Einzelteile ihres Puzzles

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie die Einzelteile ihres Puzzles zusammen hatte. Eines davon fand sie bei Baruch Spinoza und an einem wichtigen Ort jüdischer Gelehrsamkeit – oder eben auch nicht. »Ich hatte das Privileg, zu tanzen und gleichzeitig meinen Militärdienst zu leisten. In dieser Zeit reiste ich einmal nach Safed, wo ich ein Kabbala-Zentrum besuchte. Dort unterhielt ich mich lange mit einem Rabbiner«, beginnt Hanan zu erzählen. Sie habe ihn unter anderem gefragt, warum es Gott, den er als so groß und so mächtig und über allem stehend beschreibe, kümmere, »ob ich mir am Freitagabend die Hände wasche oder nicht«.

Der Rabbiner habe bloß »Ich verstehe nicht« geantwortet, woraufhin die junge Hanan ihre Frage erneut formulierte: »Finden Sie nicht, dass das, was wir im Alltag tun, mit dieser großen Sache, die Sie mir als Gott zu präsentieren versuchen, im Widerspruch steht?« Der Rabbiner schaute sie immer noch verständnislos an, dann habe er angefangen zu lachen und gefragt: »Sind Sie eine Künstlerin?«

»Die Kunstform des Tanzes konfrontiert den Betrachter sehr häufig mit dem Unbekannten.«

Seither sucht Hanan ihre Antworten eher in der Kunst oder um mit den Worten der Psychoanalytikerin Julia Kristeva zu sprechen, die Hanan zitiert: »Der Moment, in dem sich etwas Unbekanntes präsentiert oder es uns nicht bewusst wird, ist oft ein Moment des Ekels. Es ist der Moment, in dem das Publikum sagt: Ich verstehe das nicht.« Die Kunstform des Tanzes konfrontiere den Betrachter sehr häufig mit dem Unbekannten.

»Es ist immer wieder der Moment, in dem sich der Mensch im Garten Eden befindet. Vor der Sünde. Er zelebriert das Unbewusste und begreift es zugleich nicht. Wie ein nacktes Kind, das am Strand entlangläuft und nicht merkt, dass es nackt ist«, so die Tänzerin. Die Bewusstwerdung erfolge viel später, auch die Bewusstwerdung der Verletzlichkeit. »Den Betrachtenden wird erst nach und nach klar, dass es diese menschliche Seite in uns gibt.« Der Moment also, wo die Scham einsetzt? Hanan bejaht und ergänzt: »Das Animalische und Wilde ist Teil des Menschen, und dann wurde ihm klar, dass er so ist.«

Verschiedene Wege, um das Narrativ zu verstehen

Ihr sei klar geworden, dass sie selbst verschiedene Wege brauchte, um dieses Narrativ zu verstehen. Den Auftakt machte ihre Ausbildung als klassische Balletttänzerin unter anderem an der Thelma Yellin High School of the Arts in Tel Aviv. Sie war bereits beim Israel Ballet angestellt, als sie den in Israel für alle verpflichtenden Militärdienst leisten musste. »Die Armee nimmt jährlich nur fünf Tänzer und fünf Tänzerinnen auf, die sich während des drei- und zweijährigen Dienstes täglich sechs Stunden ihrer Tanzausbildung und Auftritten widmen dürfen.«

Zum Glück sei sie aufgenommen worden. Doch zuerst musste sie zur Grundausbildung, so wie alle anderen Rekruten. Sie kam zur Luftwaffe auf einen Stützpunkt in der Wüste, konnte dort aber auch üben und tanzen. Diese Zeit sei sehr hart gewesen, sagt Hanan. Bis in den späten Nachmittag trainierte sie, bevor sie bis kurz vor Mitternacht ihren Dienst auf der Basis leistete.

Nach fünf Jahren als professionelle Tänzerin hatte sie kurzzeitig die Richtung gewechselt und Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Das war der Zeitpunkt, als sie sich erstmals akademisch mit der biblischen Entstehungsgeschichte der Menschheit auseinandergesetzt habe, sagt Hanan.

Als freiberufliche Tänzerin zum ersten Mal nach Europa

Doch sie kehrte bald auf die Bühne zurück, wurde Mitglied des Israel Ballet und arbeitete eng mit der New Israel Opera zusammen. Von 2012 bis 2016 war sie Tänzerin im Jerusalem Ballet. Danach ging sie als freiberufliche Tänzerin zum ersten Mal nach Europa. Unter anderem tanzte sie bei den Salzburger Festspielen. 2017 zog Hanan nach Deutschland und wurde Ensemblemitglied der BallettCompagnie Oldenburg, geleitet von Antoine Jull. Bis 2020 war sie dort in Choreografien von Martha Graham, Alwin Nikolais und dem Schweizer Martin Schläpfer zu erleben.

Der Ballett-Direktor war es auch, der Hanan entdeckte und sie ab der Spielzeit 2020/21 zum Mitglied des Wiener Staatsballetts machte. Im Rahmen der Plattform »Choreographie 2022/23« lieferte die Künstlerin ihr erstes eigenes Ballett ab unter dem Titel »Shadows«. Nach dieser von der Ballettwelt viel gepriesenen Arbeit betraute Schläpfer sie mit Eden, das eine neue Uraufführung für das Wiener Staatsballett werden sollte.

»Diese Chance nutzte ich sofort, weil ich zeigen wollte, dass Tanz eine Möglichkeit ist, in das verlorene Paradies und in den verlorenen Garten Eden zurückzukehren.« Ob die Bühne auch eine Art »Gan Eden« ist? Hanan ist sich unsicher, aber es fühle sich zumindest wie ein Zuhause an, vor allem auf der Bühne des klassischen Balletts, aber auch im zeitgenössischen Tanz. Ihr ursprüngliches Zuhause Israel verließ sie vor acht Jahren. Sie reise regelmäßig zu ihrer Familie, doch im Moment plane sie nicht zurückzukehren. In Wien, wo sie heute lebt, hat Hanan Freunde gefunden, »die mich auch im Schmerz und in der Komplexität des 7. Oktober tragen«.

»Tanz ist eine Möglichkeit, in den verlorenen Garten Eden zurückzukehren.«

An dem Tag, als das größte Grauen brutale Realität war, musste Hanan lächeln – von Berufs wegen. Es war der Abend der Premiere von Coppélia. Hanan tanzte, um zu funktionieren, sagt sie. Ihr Bruder und nahestehende Bekannte wurden kurz darauf als Reservisten nach Gaza eingezogen. Zum Glück sei ihr Bruder wieder gesund nach Hause gekommen. Heute, knapp elf Monate später, schalte sie sich manchmal aus Gesprächen aus, wenn sie merke, dass jemand mit einem europäischen Standpunkt urteilt, der nicht im Ansatz in der Lage sei, zu verstehen, wie komplex die Situation in Israel ist.

»Niemand ist komplett unschuldig in diesem Konflikt«, so Hanan. Schuld und Unschuld und damit zurück zu Adam und Eva? Sie lacht. Für einen Moment wählt sie die menschlichste aller Sprachen: »Für mich ist es ein Akt des Überlebens, in Bewegung zu bleiben.«

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