Budapest

Singen für ein besseres Ungarn

Fing schon als Schüler an, Gitarre zu spielen: Tomi Juhász (33) bei einem seiner Auftritte in Budapest Foto: Kitti Nyikos

»Die meisten Leute, die mir begegnen, sind viel zu viel damit beschäftigt, dass ich nicht sehen kann. Ja, es stimmt: Ich kann nur dann ein bisschen sehen, wenn es sehr hell ist – aber es gibt so viele andere Dinge, die mir weitaus wichtiger sind als das.«

Der erste Eindruck, den Tomi Juhász hinterlässt, ist der eines intelligenten jungen Mannes mit klarer Kante. »Meine Tätigkeit als Musiker und Autor, die Tatsache, dass ich jüdisch bin, dass ich eine Freundin habe – all dies halte ich für einen wesentlicheren Teil meiner persönlichen Identität als meine Sehbehinderung. Doch oft ist es so, dass ich das Thema Blindheit erst ausschöpfen und ausräumen muss, ehe das Gespräch interessanter wird.«

Jugend 1988, wenige Monate vor dem Zusammenbruch des ungarischen Staatssozialismus in einer jüdischen Familie geboren, wurde Juhász erst nach der postkommunistischen Transformation erwachsen. Als sein Land 2004 EU-Mitglied wurde, besuchte er noch die Javne-Lauder-Schule der jüdischen Gemeinde.

»Ähnlich wie in den allgemeinen Schulen war ich dort zwar von sehenden Menschen umgeben, aber anders als früher hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass sie keine Ahnung haben, wie sie mit mir umgehen sollen. Zusammen mit meinen Schulkameraden spielte ich oft Theater, und wir sind in Ferienlager gereist«, erinnert sich der heute 33-Jährige, »es war eine gute Zeit.«

»Meine Eltern legten großen Wert auf gute Bildung, was in meinem Fall allerdings zu einer Herausforderung wurde – nicht, weil ich bildungsresistent gewesen wäre, sondern weil das ungarische Bildungssystem inklusionsresistent war – und immer noch ist.«

Seine Band »Vaklárma« (deutsch: Blindlärm) gehört zu den originellsten im Land.

Nach dem Abschluss seines Studiums der Geschichte und Kommunikationswissenschaft war es schwierig für Juhász, einen Job zu finden. »Die meisten Arbeitgeber wussten nicht, wie man mit sehbehinderten Mitarbeitern umgeht, und sahen nicht ein, warum sie sich ausgerechnet in einer Wirtschaftskrise so etwas antun sollen«, sagt der junge Mann.

leidenschaft So kam es, dass er seine musikalische Leidenschaft verfolgte. »Schon als Schüler hatte ich angefangen, Gitarre zu spielen, aber erst nach der Uni wurde das für mich zu einer Tätigkeit, der ich auf professionellem Niveau nachgehe.« Doch auch das war nicht frei von Hindernissen. Nicht alle Studios oder Bands sind bereit, blinde Gitarristen aufzunehmen. »Aber im Großen und Ganzen ist die Kunst- und Musikwelt natürlich etwas offener und sensibler als der Rest der Gesellschaft.«

Mit der Zeit fand Tomi Juhász seinen Zugang in die professionelle Musikszene, und seine Lieder, die er selbst schreibt, wurden sowohl durch Live-Auftritte in Budapest als auch über die sozialen Medien bekannt. Seine Band »Vaklárma« (»Blindlärm«) gehört mittlerweile zu den originellsten im Land, obwohl sie oft mangels besserer Kategorien als Popgruppe eingestuft wird.

Darüber hinaus ist Juhász in manchen Kreisen auch als Publizist und Autor von Kurzerzählungen bekannt. Bei vielen seiner öffentlichen Auftritte geht es auch um die Themen Inklusion, Umweltschutz und eine ehrlichere Erinnerungskultur in Ungarn.

publikum Seit die ganze Welt mit der Corona-Pandemie konfrontiert ist, ist das Internet für Künstler wie Juhász der einzige Weg, um ihr Publikum zu erreichen. »Aber auch vorher war es für unsere Generation immer schon so, dass ein großer Teil der Interaktionen online stattfand«, sagt er.

Für Juhász’ Fans, die überwiegend seiner Altersgruppe angehören oder noch jünger sind, sorgt nicht die Digitalisierung für Ärger, sondern der systematische, oft aktive Widerstand der älteren politischen Elite gegen die Öffnung der Gesellschaft. Dies ist auch eines der Hauptthemen in Juhász’ Liedern. Tatsächlich hat im heutigen Ungarn dieser auch in Deutschland bekannte Generationenkonflikt eine ganz andere Dimension.

Haupttenor der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz ist die explizite Ablehnung gesellschaftlicher Transformationen, die als Gefahr für althergebrachte Lebensweisen gesehen werden. So wird etwa entlang dieser Argumentationslinie ständig gegen Einwanderung, die Gleichberechtigung von Frauen und alternative Geschlechtsidentitäten oder auch gegen den amerikanisch-ungarisch-jüdischen Multi­milliardär und Philanthropen George Soros gewettert.

aNTISEMITISMUS »Das kann manchmal explizit antisemitische Töne anschlagen, manchmal aber auch nicht«, meint Juhász. »Im Grunde genommen ist für mich jedoch dieses Gerede von der ungarischen Heimat, die gefährdet ist, diese ganze Einstellung, als ob sich nichts mehr verändern darf, schon auf einer tieferen Ebene antisemitisch.« Denn sie konstruiere ein »kulturell homogenes Land mit einer festen, unveränderlichen Identität – das es aber so nicht gibt und nie gab«.

Juhász’ Verhältnis zum Judentum ist vor allem vom intellektuellen Erbe der urbanen, weltoffenen Budapester Kulturelite geprägt. Sie hat eine wesentliche Rolle in der Geschichte des Landes gespielt und definiert sich bis heute eher über gesellschaftliche und politische Grundsätze als über religiöse Werte.

»Jüdisch zu sein, ist Teil meiner Identität und meines Lebensstils«, sagt Tomi Juhász. »Ich stehe dazu, und es ist mir wichtig. Das heißt jedoch nicht, dass ich regelmäßig in die Synagoge gehe. Vielmehr verstehe ich das Judentum als eine kulturelle Tradition, der ich gern angehöre, weil sie meiner Meinung nach viel Richtiges und Wichtiges enthält.«

USA

Mehrgewichtig, zionistisch und stolz

Alexa Lemieux ist Influencerin in den sozialen Medien und zum Vorbild für viele junge jüdische Frauen geworden

von Sarah Thalia Pines  11.11.2025

Prag

Der Golem-Effekt

Seit mehr als fünf Jahrhunderten beflügelt das zum Schutz der Juden geschaffene Wesen aus Staub und Worten die Fantasie. Ein Blick zurück mit Büchern, Filmen und den »Simpsons«

von Sophie Albers Ben Chamo  11.11.2025

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  11.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Jerusalem

Zerstrittene Zionisten

Der Zionistische Weltkongress tagt zum 39. Mal seit seiner Gründung im Jahr 1897 durch Theodor Herzl. Doch das Treffen droht zum Fiasko für die Organisation zu werden. Die Hintergründe

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025