Georgien

Sicher und schön

Hoch oben in den Bergen der georgischen Region Letschchumi, etwa 850 Meter über dem Meeresspiegel, liegt das Dorf Lailaschi. Umgeben von schroffen Bergrücken und dichten Wäldern inmitten klarer Gebirgsluft bewahrt dieser kleine Ort eine Atmosphäre zeitloser Ruhe. Doch hat Lailaschi nicht nur den Blick auf atemberaubende Natur zu bieten, sondern auch eine bemerkenswerte Vergangenheit.

Über Jahrhunderte hinweg lebten Juden hier sicher Seite an Seite mit ihren Nachbarn. Gemeinsam prägten sie eine Gemeinschaft, die von Toleranz, geteilten Traditionen und kulturellem Austausch geprägt war. Die alte Synagoge, die bis heute im Herzen des Dorfes steht, ist Zeuge dieser Koexistenz und des einst blühenden jüdischen Lebens im georgischen Hochland.

Historische Quellen erwähnen Lailaschi erstmals im 18. Jahrhundert. Doch seine Geschichte reicht weiter zurück, bis ins 16. Jahrhundert, als türkische Truppen Achalkalaki auf dem Dschawacheti-Plateau im Süden eroberten. Jüdische und armenische Flüchtlinge aus Samzche-Dschawachetien suchten daraufhin im abgelegenen Hochland von Letschchumi Zuflucht.

Legenden und Manuskripte

Der Legende nach kamen sie nachts an, geführt vom Licht des Mondes. Beeindruckt von der silberbeschienenen Landschaft nannten sie den Ort Lailaschi – vom hebräischen »laila« (Nacht) und dem georgischen »schi« (in). Und hier lebten von nun an vier Gemeinschaften friedlich nebeneinander: Georgier, Juden, Armenier und Griechen. Lokalen Überlieferungen zufolge kam es zu keinerlei Konflikten, nicht einmal kleineren Auseinandersetzungen.

Laut dem georgischen Historiker Davit Kopaliani siedelten Juden sich sogar noch deutlich früher in Georgien an, genauer gesagt nach der Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem vor mehr als 2600 Jahren – zunächst in Swanetien, später in Letschchumi. Ein benachbartes Dorf trug sogar den Namen Tabor, nach dem biblischen Berg Tabor in Israel.

Die Juden von Lailaschi waren als ehrliche Handwerker, fleißige Bauern und geschickte Händler bekannt. Sie passten sich ihrer neuen Heimat an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Hälfte der Bewohner Lailaschis Juden – rund 100 Haushalte sollen es gewesen sein. Eine Begebenheit aus dem Jahr 1913 ist bis heute im Gedächtnis: Als eines Tages ein Brand den jüdischen Markt erfasste, halfen die georgischen Nachbarn sofort im Kampf gegen die Flammen, um das Eigentum der Juden zu schützen. Die Geschichte gilt bis heute als Symbol gelebter Solidarität.

Der Legende nach kamen die Juden nachts in Lailaschi an, geführt vom Licht des Mondes.

Neben Überlieferungen gibt es aber auch Handfestes: Eine der seltensten Handschriften Georgiens stammt aus Lailaschi, die sogenannte Lailaschi-Bibel, ein hebräisches Manuskript aus dem 9. Jahrhundert. Auf Pergament geschrieben, umfasst es 169 Folios mit den fünf Büchern Mose, der Masora und Kommentaren. Es ist mit bunten geometrischen Ornamenten verziert. Weltweit sind nur drei oder vier vergleichbare Handschriften bekannt. Heute wird die Lailaschi-Bibel im Nationalen Handschriftenzentrum in Tiflis aufbewahrt – ein Schatz, dessen Inhalt noch längst nicht vollständig erforscht ist.

Das friedliche, solidarische Zusammenleben im Bergdorf gibt auch Anlass zum Feiern: Am 17. August dieses Jahres organisierte die Gemeinde Zageri das Festival »Ein Jahrhundert multiethnischen Zusammenlebens in Lailaschi«. Ausstellungen zu Handwerk, Weinbau, Küche und privaten Fotoarchiven fanden im historischen Teil des Dorfes statt. Unter den Gästen waren auch georgische Juden, die eigens aus Israel angereist waren. Gemeinsam mit den Einheimischen besuchten sie unter anderem die Synagoge von Lailaschi, die jüngst restauriert wurde. Den Abschluss der Feierlichkeiten bildete ein Konzert mit Tanz, Gesang und Poesie.
An diesem Tag wurde auch beschlossen, eine neue Tradition zu begründen: Künftig soll das Fest »Lailaschoba« jedes Jahr in der dritten Augustwoche an das reiche kulturelle Erbe als Brücke zwischen der georgischen und der jüdischen Gemeinschaft erinnern.

Für einen Brückenschlag moderner Art sorgt das einst von Lailaschis jüdischer Gemeinde am Berg errichtete und gerade restaurierte Wasserbecken nahe der Quelle von Oqronischi. Weil man von hier aus einen atemberaubenden Blick über die Ladschanuri-Schlucht hat, ist dieser lange vergessene Ort mittlerweile zu einem Insta-Hotspot für Einheimische und Touristen geworden.

Ohne Antisemitismus

Tatsächlich gilt Georgien als Land ohne Antisemitismus. Israelis und Juden bereisen es gern, denn gerade in Zeiten des grassierenden Judenhasses in anderen Teilen der Welt verspricht das Land im Kaukasus Sicherheit, Respekt und Schutz. Historisch betrachtet hat die lokale Bevölkerung in Zeiten von Kriegen, Krisen und Vertreibungen die jüdische Bevölkerung stets unterstützt. Während der Schoa haben georgische Familien jüdische Nachbarn versteckt, und georgische Gemeinden halfen dabei, die Synagogen und Traditionen der Juden zu bewahren. Heute gibt es in Georgien praktisch keine antisemitischen Vorfälle. Der Staat fördert aktiv die Erforschung der jüdischen Kultur und Geschichte. Synagogen, Friedhöfe und historische Stätten werden restauriert, und Bildungs- und Museumsprojekte werden unterstützt.

Laut Umfragen lehnt die Mehrheit der Georgier Antisemitismus strikt ab. Das könnte daran liegen, dass Medien, Kultur und Bildung aktiv dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und korrektes Wissen über die jüdische Gemeinschaft zu verbreiten. Der Historiker und Generaldirektor des Nationalmuseums von Georgien, David Lordkipanidze, betont: »Die jüdische Geschichte in Georgien ist untrennbar mit der georgischen Identität verbunden. Diese Verbindung schützt die jüdische Gemeinschaft bis heute.«

»Ich bin eine georgische Jüdin – damit ist alles gesagt.«

Lali Krikheli

Lali Krikheli ist 47 Jahre alt und wurde in Tiflis geboren. »Schon damals orientierte sich Georgien an europäischen Werten, lange bevor Europa selbst Klarheit über seine Identität fand«, sagt die Marketing-Expertin. Aufgewachsen in der Altstadt der Hauptstadt habe sie täglich mit Kindern unterschiedlichster Herkunft gespielt: Georgier, Juden, Armenier, Russen. Die Herkunft sei Nebensache gewesen, entscheidend war das gemeinsame Spiel. »Und in diesem Spiel sind wir zusammen groß geworden«, erinnert sie sich.

Krikheli besuchte georgische Kindergärten, Schulen und schließlich die Universität – ihr Leben sei äußerlich wie das eines jeden anderen Georgiers verlaufen. Doch von Kindesbeinen an trug sie den Magen David und war sich ihrer jüdischen Identität bewusst. »Draußen lebte ich ein normales georgisches Leben, zu Hause bereiteten wir uns auf den Schabbat vor, gingen an Feiertagen in die Synagoge und fasteten am Jom Kippur.«

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Wenn man sie nach ihrem Selbstverständnis fragt, antwortet Krikheli: »Ich bin eine georgische Jüdin – und damit ist alles gesagt.« Für Krikheli sind beide Identitäten untrennbar: »So wie ein Jude niemals jemand anderes sein kann, so kann auch ein Georgier niemals jemand anderes sein.«

Synagoge in der Rioni-Schlucht

Die größte Synagoge des Landes steht in Kutaisi, der alten Königsstadt im Westen des Landes. Errichtet wurde sie im Jahr 1866, und das massive Sandsteingebäude beeindruckt mit seinen hohen Hallen, drei monumentalen Eingangsportalen und der reich verzierten Innenausstattung. Einst versammelten sich hier Hunderte Gläubige – und auch heute bildet die Synagoge den Mittelpunkt des jüdischen Lebens in der Region. In Kutaisi existieren auch noch zwei kleinere Synagogen.

In der georgischen Hauptstadt stehen gleich zwei bedeutende Gotteshäuser: die Große Synagoge von Tiflis an der Kote-Afkhazi-Straße, errichtet zwischen 1903 und 1910 von eingewanderten Juden aus Racha im Westen. Mit ihrer markanten Backsteinfassade, den Rundbogenfenstern und dem zweigeschossigen Betsaal ist sie nicht nur ein religiöses Zentrum, sondern auch eine Sehenswürdigkeit der Altstadt. Die etwas kleinere Sioni-Synagoge (auch »Aschkenasische Synagoge« genannt), stammt aus dem späten 19. Jahrhundert und diente vor allem der kleineren aschkenasischen Gemeinde.

In Ratschʼa an der Rioni-Schlucht erhebt sich ein wahres Juwel: die Synagoge von Oni, erbaut 1895. Sie gilt als eine der schönsten Synagogen im ganzen Kaukasus – mit klassizistischen Elementen, einer reich geschmückten Fassade und einem beeindruckenden Innenraum. Trotz ihrer Abgeschiedenheit hat sich Oni zu einem wichtigen religiösen Zentrum der georgischen Juden entwickelt.

Nach neuesten Schätzungen leben heute noch etwa 3000 bis 5000 Juden in Georgien, hauptsächlich in Tiflis und Kutaissi. 1959 sollen es mehr als 40.000 gewesen sein, in den 80er-Jahren noch 10.000. Die weltweite jüdisch-georgische Diaspora wird auf 70.000 bis 80.000 Menschen geschätzt, die meisten davon leben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der vielen endlich die Alija ermöglichte, in Israel. Doch mittlerweile kommen einige gern einmal wieder zurück in den Kaukasus. Zum Beispiel, wenn ein kleiner Ort wie Lailaschi sein jüdisches Erbe feiert.

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