Großbritannien

Shalom, Your Majesty!

Als Königin Elizabeth vor zehn Jahren ihr 60. Thronjubiläum feierte, wurden bei einem Empfang im Buckingham-Palast zahlreiche Reden auf die Jubilarin gehalten. Einer der Redner war Vivian Wineman, der damalige Präsident des britisch-jüdischen Dachverbands Jewish Board of Deputies. Er wünschte der Monarchin »viele weitere Lebensjahre – ad Mea-we-Esrim«.

Weder die Queen noch ihr Mann, Prinz Philip, hatten dergleichen je gehört. Was bedeuteten die mysteriösen hebräischen Worte? Als Prinz Philip später nachfragte, wurde ihm erklärt, dass es der Wunsch ist, die Queen möge so lange leben, bis sie 120 Jahre alt ist. Nach den jüdischen Lehren sei dies das Limit der für den Menschen auf Erden verfügbaren Zeit und die Länge des Lebens von Moses. Queen Elizabeth, ihr Leben lang eine tief gläubige Frau, soll bescheiden gelächelt haben.

Nach dem Tod der Queen erinnerte die derzeitige Präsidentin des Jewish Board of Deputies, Marie van der Zyl, an den Ad-Mea-we-Esrim-Gruß ihres Vorgängers und sagte über die verstorbene Königin: »Wir liebten ihre Weisheit, ihre unkomplizierte Art, Dinge zu erledigen, und ihren schlitzohrigen Sinn für Spaß – normalerweise immer dann, wenn die Kameras gerade woanders hinblickten.«

OBERRABBINER Zu jenen, auf die die Queen eine besondere Wirkung hatte, gehört auch der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis. Er erzählte der BBC von einem Besuch mit Übernachtung gemeinsam mit seiner Frau im Buckingham-Palast und dem persönlichen Interesse der Queen an der jüdischen Gemeinde. Die Königin sei ein »Felsen der Stabilität und eine Verfechterin zeitloser Werte« gewesen, betonte Mirvis. Auf Twitter schrieb er: »She never let us down« (Sie ließ uns nie im Stich). Ihre Zuneigung gegenüber der jüdischen Community sei stark gewesen und ihr Respekt vor jüdischen Werten ganz offensichtlich.

Die Vorsitzende der Gruppe Jewish Labour, Margaret Hodge, hob hervor, dass Elizabeth 70 Jahre auf dem Thron saß: Soweit man von Königen und Königinnen wisse, habe nur der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. länger regiert als die Queen. Doch habe es in der Art, wie die Königin ihre Arbeit verrichtete, einen großen Unterschied zu ihm gegeben: Sie habe sich aufgeopfert in ihrem Dienst am Volk. Dies sei der Grund, weshalb sie von so vielen geliebt wurde und nun vermisst werde.

Auch der Jüdische Weltkongress bedauerte den Tod der Queen und hob hervor, sie habe in den 40er-Jahren für Anne Frank in ihrem Versteck in Amsterdam auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie eine Inspiration und eine Quelle des Wohlgefühls dargestellt. Anne Franks Vater Otto hatte nach dem Zweiten Weltkrieg angegeben, seine Tochter habe die königliche Familie geliebt, und das Foto sei Teil einer Sammlung gewesen, von der er als Vater gehofft habe, dass sie den Kindern Kraft geben würde. Anne Frank selbst schrieb, Elizabeths wunderschönes Lächeln gebe ihr Zuversicht.

BERGEN-BELSEN Zum 70. Jahrestag der Befreiung besuchte die Königin 2015 das ehemalige KZ Bergen-Belsen, in dem Anne Frank 1945 ums Leben kam. Beim Rundgang durch die Gedenkstätte habe die Queen Tränen in den Augen gehabt, sagte vor einigen Jahren die Überlebende Gena Turgel. Sie erzählte, die Queen habe sich bei einer späteren Garten-Party im Buckingham-Palast an alle Einzelheiten ihrer Überlebensgeschichte erinnern können.

Zehn Jahre zuvor hatte die Queen zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im St. James’s Palace eine Gruppe von Schoa-Überlebenden empfangen. Dort soll sie laut der Erinnerung des inzwischen verstorbenen ehemaligen britischen Oberrabbiners Jonathan Sacks den Überlebenden weit über das vorgesehene Maß Zeit geschenkt haben.

Für Schoa-Überlebende nahm sich die Queen besonders viel Zeit.

»Ein Mitglied der königlichen Dienerschaft sagte, man habe es noch nie erlebt, dass die Queen nach ihrer offiziell dafür vorgesehenen Zeit noch so lange mit den Gästen zusammengeblieben ist. Sie schenkte jedem einzelnen Überlebenden – es war eine große Gruppe – ihre konzentrierte, ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie verbrachte so lange Zeit mit jeder einzelnen Person, bis diese die Schilderung ihrer persönlichen Geschichte beendet hatte«, berichtete Sacks.

Der Einsatz der Queen in diesen Belangen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil ihr Onkel, König Edward VIII., den Nationalsozialisten eher viel zu nahe kam, und auch weil einige entfernte adlige deutsche Verwandte der Königin sowie Prinz Philips Geschwister im Krieg auf der Seite Hitlers standen.

In diesem Zusammenhang wird häufig auch eine 2015 ans Licht gekommene 17-sekündige Filmaufnahme erwähnt, in der man sieht, wie die sieben- oder achtjährige Eliza­beth 1933 oder 1934 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Onkel, dem späteren König Edward VIII., den rechten Arm zum Hitlergruß hebt.

BEDÜRFTIGE Der Norwood Trust, eine jüdische Hilfsorganisation für Bedürftige, spricht von der Queen in höchsten Tönen. David Ereira, ehemaliger Geschäftsführer der Organisation, erinnert sich, wie die Königin vor 14 Jahren eines der Sozialzentren besuchte. »Sie machte klar, dass sie, obwohl es ein offizieller Besuch war, keinen Prunk und keine Zeremonie wollte und nicht als die Große und Gute der britischen Gesellschaft vorgestellt werden wollte. Stattdessen wollte sie die Menschen treffen, um die wir uns kümmern. So kam sie nur mit ihrer Hofdame und ihrem Leibwächter und ging sofort auf einige Leute in Rollstühlen zu und stellte sich ihnen auf derart wundervolle und warme Art und Weise vor, dass wir alle sehr überrascht waren.«

Ereira sagt weiter, die Queen habe ihm danach nicht nur für die Einladung gedankt und den Ort und die Menschen sehr positiv beschrieben, sondern auch »eine echte und tiefgehende Unterhaltung über die Schwierigkeiten des Zentrums begonnen«. Sie habe die Menschen dazu gebracht, frei und unbeschwert zu erzählen.

Neben solcherlei Lob der Aufmerksamkeit und des Dienstes der verstorbenen Königin hört man in jüdischen Kreisen aber auch Kritik. Die Queen hat in ihrem Leben mehr als 120 Staaten besucht – kein Staatsoberhaupt der Welt hat es je geschafft, mehr Länder zu bereisen –, doch war sie nicht ein einziges Mal in Israel.

boykott Manche, wie der ehemalige Chefredakteur der israelischen Tageszeitung »Haaretz«, bezeichnen dies als Boykott. Der Historiker Andrew Roberts spricht von einem Akt der Delegitimierung Israels durch das Vereinigte Königreich. Seiner Meinung nach lag dies aber weniger an der Queen selbst, sondern an Vorurteilen, die offenbar im Foreign Office, dem Londoner Außenministerium, herrschen.

Ein Besuch im Heiligen Land hätte der tiefgläubigen Queen wahrscheinlich viel bedeutet. Obwohl sie eine der mächtigsten und bekanntesten Personen der Welt war, blieb die Möglichkeit, Israel zu besuchen, anderen in ihrer Familie reserviert, darunter ihrem Mann Philip und Sohn Charles. Beide reisten vor allem in Bezug auf die in Jerusalem begrabene Mutter Prinz Philips, Prinzessin Alice.

Diese hatte im Zweiten Weltkrieg eine jüdische Familie versteckt und gilt inzwischen als »Gerechte unter den Völkern«. Charles, damals noch Prinz, vertrat 1995 das Königshaus beim Begräbnis des ermordeten israelischen Ministerpräsiden­ten Yitzhak Rabin und 2016 bei den Trauerfeierlichkeiten für den ehemaligen Staatspräsidenten Schimon Peres. Zudem beteiligte er sich im Januar 2020 am World Holocaust Forum in Jerusalem, wo er auch den damaligen israelischen Präsidenten Reuven Rivlin traf.

Prinz William, seit dem Tod der Queen Prince of Wales, war bisher der Einzige, der im Rahmen einer offiziellen Staatsvisite 2018 Israel sowie Jordanien und die Palästinensergebiete besuchte.

israel Und auch, wenn es eindeutig am Londoner Außenministerium lag – das soll laut dem langjährigen Vorsitzenden der Conservative Friends of Israel, Lord Stuart Polak, selbst Queen Elizabeths Tochter Anne bestätigt haben –, dass die Monarchin nie nach Israel reiste, fragen sich doch manche, wie man den Kommentar der Königin während ihrer Reise durch Jordanien 1984 deuten soll: Als israelische Kampfflugzeuge am Himmel über dem Westjordanland vorbeizogen, sagte die Queen: »Wie beängstigend!« Und als ihr später eine Landkarte der von Israel seit 1967 besetzten Gebiete gezeigt wurde, nannte sie diese eine »deprimierende Karte«.

Als Prinz war Charles Schirmherr zahlreicher jüdischer Organisationen.

Die meisten Israelis hätten sich einen Besuch der Queen sehr gewünscht. Es gibt aber auch eine Minderheit im jüdischen Staat, die – auch wegen dieser Äußerungen – einen Besuch abgelehnt hätte. Manche verstanden sie als Oberhaupt jenes Staates, der Mitglieder der jüdischen Befreiungsorganisationen zum Tode verurteilt hat und jüdischen Flüchtlingen die Einreise in das bis 1948 von Großbritannien als Mandat verwaltete Palästina verwehrte, was für viele großes Leid bedeutete und für manche tödlich endete.

Vom amtierenden König Charles III. erhofft man sich in Israel neue Signale, denn man sagt ihm eine besondere Verbundenheit mit dem Judentum nach. Es ist bekannt, dass die Queen ihn 1948, fünf Tage nach seiner Taufe, vom Mohel und Arzt Jacob Snowman hat beschneiden lassen. Er gilt als einer, dem der Austausch zwischen den Religionen wichtig ist, und anders als seine Mutter hat er Israel wiederholt bereist.

Viele Juden weltweit wünschen sich, dass der neue König Israel nun bald auch einen offiziellen Besuch abstattet. Die Zeichen stehen nicht schlecht, denn an der Spitze der Londoner Regierung steht seit vergangener Woche eine Unterstützerin des jüdischen Staates. Die neue britische Premierministerin Liz Truss traf sich im vergangenen Jahr nicht nur offiziell mit Yair Lapid, der inzwischen Israels Ministerpräsident ist, sondern hatte auch ein privates Abendessen mit ihm.

HOFLIEFERANTEN Ob die jüdischen Hoflieferanten, Handtaschenmacher Sam Launer, Maßschneider Geoffrey Golding, die Handschuhmacherin Genevieve James, das Stoffunternehmen Joel & Son Fabrics, das Kleidungsunternehmen Moss Bros. sowie das Juweliergeschäft Wartski, ohne die Queen weiter ihre königlichen Lizenzen beibehalten können, hängt nun von den Präferenzen King Charles’ und seiner Frau Camilla ab.
Als Prinz war der neue König seit einigen Jahren Schirmherr zahlreicher jüdischer Organisationen, darunter der World Jew­ish Relief. Anfang des Jahres ließ Charles sieben Porträts von Schoa-Überlebenden malen, und für die Memoiren der Auschwitz-Überlebenden Lily Ebert schrieb er das Vorwort.

Er sprach oft von der Schoa als einer Warnung an die Gesellschaft. So gewappnet und als Fürsprecher des interreligiösen Austauschs – in Anerkennung seines Engagements erhielt Charles im vergangenen Jahr sogar den Brücken-Preis des Council of Christians and Jews (CCJ) – steht für viele nach dem Tod der Königin mit Charles III. eine zuversichtliche Zukunft bevor. God save the King!

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