Österreich

Sehnsucht nach Wien

Mancher Antragsteller hat jahrelang von seinen Verwandten gehört, Wien sei die schönste Stadt der Welt: Blick auf die Donau und den Donaukanal Foto: Getty Images/iStockphoto

Das Wienerische macht Ezequiel Max noch etwas zu schaffen. Der Dialekt sei eine große Überraschung gewesen, sagt der junge Mann. In Argentinien ist er aufgewachsen, hat dort auch einen Deutschkurs belegt. Seit einem halben Jahr lebt er in Wien.

Und wenn er auf die linguistischen Überraschungen, Feinheiten und bisweilen auch Unwägbarkeiten zu sprechen kommt, dann ist da schon auch ein wichtiger Zusatz: »Anfangs«, so sagt er, sei das ein Problem gewesen. Denn mittlerweile spricht Ezequiel Max fließend Deutsch – und bald wohl auch Wienerisch.

gesetz Seit Dezember hat Ezequiel Max neben seiner argentinischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Möglich gemacht hat das ein seit vergangenem Herbst geltendes Gesetz, wonach Schoa-Überlebende und Geflohene sowie Nachfahren von aus Österreich und den einstigen Kronländern der k. u. k. Monarchie Geflohenen ein Anrecht auf die österreichische Staatsbürgerschaft haben.

Vor allem aber müssen sie ihren anderen Pass nicht abgeben – eine neu geschaffene Möglichkeit, deren Reichweite die Erwartungen weit übertroffen hat.

Bis zum Stichtag Ende April gingen bei der zuständigen Behörde in Wien sage und schreibe 10.178 Anträge ein. Davon sind 4621 Verfahren inzwischen abgeschlossen, und 1241 Personen haben die österreichische Staatsbürgerschaft bereits erhalten. Vor allem aber gab es bis zum Stichtag gerade einmal elf Ablehnungen. Die meisten Anträge kamen aus Israel, gefolgt von den USA sowie Großbritannien.

Ezequiel Max ist einer der Ersten gewesen, die den österreichischen Pass auf Basis der neuen Rechtslage erhalten haben. Vor allem aber ist er einer der Ersten, die sich tatsächlich in Österreich niedergelassen haben. Und der Andrang reißt nicht ab.

BERATUNG Für Gabriele Oberschlick bedeutet dies handfeste Beratungsarbeit. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien und für viele Interessierte die erste Anlaufstelle. Jeden Tag habe sie mehrere Anfragen, sagt sie. Oft ginge es um die Geburtsurkunden einer Großmutter oder eines Großvaters. Die liegen in den Archiven der IKG.

»Wenn jemand in Argentinien sitzt und diese Geburtsurkunden organisieren möchte, dann ist das eine Herausforderung«, sagt sie. Bei manchen gehe es dann auch um die Frage, wann ein Verwandter Österreich verlassen habe. Die allermeisten Fälle seien aufgrund der Archivlage jedoch gut nachvollziehbar, sagt Oberschlick.

Für Ezequiel Max war es eindeutig: Ein Teil seiner Familie kommt aus Wien. Die Großtante habe immer erzählt, wie schön die Stadt sei. »Ich habe Geschichten von der Ringstraße gehört, für meine Großtante war Wien die schönste Stadt der Welt«, sagt Max. Bis auf eines: die Wiener. Mit denen hatte Ezequiel Max laut eigenen Worten bisher aber keine Probleme.

Innerhalb weniger Monate gingen mehr als 10.000 Anträge ein.

Für ihn bedeutet das neue Leben derzeit: ein Zimmer in einem Studentenheim in Zentrumsnähe, eine neue Stadt, neuer Alltag. »Ich wollte immer in Europa studieren«, sagt er, »und Österreich ist ein Land, zu dem ich eine Verbindung habe.« In zweifacher Hinsicht – denn seit drei Jahren ist der junge Mann mit einer Wienerin liiert. Aus dem Land seiner Kindheit fortzugehen, sei dann letztlich aber dennoch kein leichter Entschluss gewesen, auch wenn er den Umzug bisher nie bereut hat.

ausnahme Ezequiel Max sei durchaus eine Ausnahme unter jenen, die vom erleichterten Zugang zu einem österreichischen Pass Gebrauch machen, sagt Gabriele Oberschlick. Für sehr viele ist es schlicht die Option auf einen Schengen-Pass. Doch es gebe eben auch »einige, die sich wirklich niederlassen wollen«. Für sie sei das sehr oft auch mit starken Gefühlen verbunden.

»Ich habe den Eindruck, dass das ein sehr emotionales Thema ist – in vielerlei Hinsicht«, sagt Oberschlick. »Da ist einmal die Frage, ob man den Antrag überhaupt stellen soll in einem Land, das der Familie so viel angetan hat. Sollte es nämlich nicht funktionieren, wäre es eine Art Wiederholung.«

Und wenn es funktioniert? Das sind dann die Augenblicke, wenn zum Beispiel Bilder in ihrer Mailbox landen, die eine feierliche Familienjause in Großbritannien zeigen, mit Gugelhupf und Melange, weil es eben geklappt hat. Im konkreten Fall geht es um einen Mann, der als Kind vor den Nazis aus Österreich floh und heute mit seinen Kindern und Enkelkindern in Großbritannien lebt. Die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft wurde von der gesamten Familie gefeiert – und man ließ das die Ansprechpartnerin in Wien wissen.

AMTSSCHIMMEL Die IKG ist in diesem Prozess für viele die erste Anlaufstelle, bevor es in die Mühlen der Wiener Bürokratie geht. Gabriele Oberschlick schätzt, dass die Bearbeitung eines Antrags etwa ein halbes Jahr dauert. Und in dieser Zeit ist sie es dann zumeist, die die Antragsteller betreut, berät und zuweilen auch beruhigt, während der österreichische Amtsschimmel wiehert.

Denn die rechtsverbindliche Entscheidung trifft die Wiener Einwanderungsbehörde. Die Kooperation zwischen Stadt und IKG ist in dem Verfahren jedoch eng. Das beginnt schon da, wo es um die Archive der IKG geht, auf die die Wiener Magistratsabteilung in der Sache Zugriff hat.

»Mir ist wichtig«, sagt Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr, »den Vertriebenen und ihren Nachkommen jenen Respekt zu zollen, den sie verdienen, und ihnen den Schritt zurück in ihre leider gewaltvoll geraubte Heimat zu erleichtern.« Den erleichterten Zugang nennt er einen »wichtigen und längst überfälligen Schritt«. Dabei gehe es nicht um eine »symbolische Geste, sondern darum, aufzuzeigen, dass dieses Kapitel in Österreichs Geschichte nicht vergessen werden darf«.

Für Ezequiel Max ist die neue Rechtslage Türöffner in ein neues Leben. »Ich fühle mich hier in Wien seit den ersten Tagen daheim«, sagt er. Wie das so rasch gehen konnte, wisse er nicht. Jetzt wartet der 19-Jährige erst einmal auf den Zivildienst. Da könne man mehr leisten als in Uniform, sagt er. An einem Militärdienst, wie er in Österreich nach wie vor Pflicht ist, habe er kein Interesse. Hinzu kommt, dass ihn Verwandte eindringlich darum gebeten hätten, nur ja diese Uniform nicht anzuziehen.

Baku/Malmö

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