Argentinien

Schweigen und Widerstand

Zwischen 1976 und 1983 herrschte in Argentinien eine der kriminellsten Militärdiktaturen Südamerikas. Der Staat machte Jagd auf Mitglieder und Sympathisanten linker Organisationen, Guerilleros, aber auch auf Schüler, Studenten und Gewerkschafter. Rechtsstaatlichkeit existierte nicht: In Nacht- und Nebelaktionen oder am helllichten Tage wurden die Oppositionellen von Sicherheitskräften verschleppt, in geheimen Gefängnissen gefoltert und meist umgebracht.

Desparecidos Die Opfer, die an unbekanntem Ort verscharrt wurden, werden als Desparecidos (Verschwundene) bezeichnet. Man schätzt ihre Zahl auf bis zu 30.000. Zwischen acht und zehn Prozent waren jüdische Argentinier, doch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag damals nur bei einem Prozent. Diese überproportional hohe Zahl jüdischer Diktaturopfer erklärt der argentinische Journalist Hernán Dobry in seinem neuen Buch Los Judíos y la Dictadura (»Die Juden und die Diktatur«): In den Gesellschaftsgruppen, die von den Militärs besonders erbarmungslos verfolgt wurden – Studenten, Fachkräfte und Dozenten – habe es viele Juden gegeben.

In nur sehr wenigen Fällen seien Menschen verschleppt worden, weil sie jüdisch waren, stellt Dobry klar. Doch seien politische Häftlinge noch sadistischer gefoltert worden, wenn sie jüdischer Herkunft waren. Der Grund: In Teilen der argentinischen Streitkräfte herrschte ein antisemitischer Geist. Und nicht nur dort: In Argentinien häuften sich während der Diktatur, aber auch schon in den Jahren davor, Übergriffe auf jüdische Einrichtungen.

Schweigen Dobry analysiert in seinem Buch die Situation und das Verhalten der jüdischen Gemeinschaft Argentiniens während der Diktatur. Die Spannbreite reichte vom offiziellen Schweigen bis hin zum öffentlichen Widerstand einzelner Personen. Bis heute umstritten ist die Rolle des Dachverbands der jüdischen Organisationen, der Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas (DAIA). Die Familien der jüdischen Verschwundenen (zwischen 800 und 1500) werfen der DAIA vor, sie allein gelassen zu haben.

Hernán Dobry schildert die Unfreundlichkeit, mit der die Angehörigen von den Angestellten des Dachverbands empfangen wurden. Manche Eltern hätten sogar den Vorwurf zu hören bekommen: »Das haben Sie davon, dass Sie Ihr Kind nicht jüdisch erzogen haben.« Viele Hilfesuchende kamen nie wieder.

Die DAIA vermied auch jede öffentliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes und bremste Bestrebungen jüdischer Organisationen im Ausland, vor allem in den USA, die Diktaturverbrechen anzuprangern. »Der Verband war sehr um den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien besorgt. Er fürchtete Repressalien der Junta gegen die Juden«, erklärt Dobry diese Vorsicht. Doch auf der anderen Seite sei der Verbandspräsident persönlich ins Innenministerium gegangen und habe dort Listen mit den Namen der jüdischen Verschwundenen präsentiert. Aber weder die DAIA noch Kirchen oder andere Institutionen erhielten Auskunft über das Schicksal der Verschleppten.

Waffenlieferungen Dobry berichtet in seinem Buch davon, wie der jüdische Dachverband mit der israelischen Botschaft in Buenos Aires zusammenarbeitete. Er beschreibt die stille Diplomatie, mit der Israel Hunderte von Verfolgten außer Landes brachte. Auch der jüdische Staat prangerte das Verschwindenlassen von Menschen kein einziges Mal öffentlich an, aber er rettete mindestens 400 jüdische und nichtjüdische Argentinier. Darunter waren zwar keine Verschwundenen, aber politische Häftlinge und gefährdete Personen.

Andererseits verkaufte Israel unter Ministerpräsident Menachem Begin Waffen im Wert von mehr als 700 Millionen US-Dollar an das Militärregime in Buenos Aires. An erster Stelle der Staaten, die Waffen an die Junta lieferten, stand allerdings die Bundesrepublik Deutschland.

Mit seinem Buch will Hernán Dobry vor allem diejenigen Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft würdigen, die mutig ihre Stimme gegen die argentinische Diktatur erhoben: die Rabbiner Marshall Meyer und Roberto Graetz sowie den Journalisten Herman Schiller.

Plaza de Mayo Der US-Amerikaner Meyer kritisierte in seinen Predigten in der Bet-El-Synagoge in Buenos Aires den Staatsterrorismus. Im Bethaus und im Rabbinerseminar, das Meyer selbst gegründet hatte, empfing er jüdische und nichtjüdische Angehörige von Verschwundenen und unterstützte sie – moralisch und praktisch. Gemeinsam mit seinem Kollegen Roberto Graetz begleitete Meyer die berühmten »Mütter der Plaza de Mayo« bei ihren Protestmärschen und besuchte politische Häftlinge in den Gefängnissen.

Meyer und der Journalist Herman Schiller gründeten 1983 in Buenos Aires die jüdische Menschenrechtsbewegung. Schiller brachte seit 1977 die Zeitung Nueva Presencia (Neue Präsenz) heraus, die sich mit der Zeit zu einem der wichtigsten Vorkämpfer für die Menschenrechte entwickelte. Während die argentinische Presse – auch die jüdische – angesichts der Diktaturverbrechen überwiegend schwieg, informierte Nueva Presencia über das Verschwinden von Menschen oder antisemitische Vorfälle und veröffentlichte Leserbriefe von Angehörigen der Opfer.

Das Blatt kritisierte sogar den von der Militärjunta angezettelten Falklandkrieg, den die Mehrheit der Argentinier anfangs bejubelte. Die Folgen ihres Mutes bekamen die Mitarbeiter der Zeitung zu spüren: Es gab ständige Drohanrufe und zwei Bombenattentate auf Druckereien von Nueva Presencia.

berichte Auch der jüdische Dachverband DAIA übte Druck auf die Zeitung aus; sie solle ihre kritische Berichterstattung einstellen – was aber nicht geschah. In einem Buch der DAIA über die Geschichte von Argentiniens jüdischer Gemeinschaft kommen weder der Journalist Schiller noch die Rabbiner Meyer und Graetz vor. »Von denjenigen, die taten, was die offizielle Vertretung der Juden unterließ, ist nicht die Rede«, kritisiert Dobry.

Der 1993 verstorbene Marshall Meyer ist in Argentinien bekannt, aber das Blatt Nueva Presencia vom Vergessen bedroht. »Vor diesem Vergessen möchte ich die Zeitung mit meinem Buch bewahren«, betont Dobry.

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.

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