25 Jahre AMIA Attentat

Ruf nach Gerechtigkeit

Die Namen der 85 Opfer vor dem neu errichteten AMIA-Gebäude Foto: Victoria Eglau

Adriana Reisfeld war 39 Jahre alt, als ihre Heimatstadt Buenos Aires an einem Montagmorgen um 9.53 Uhr von einer Detonation erschüttert wurde.

Der Terroranschlag am 18. Juli 1994 galt dem jüdischen Gemeindezentrum AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina), in dem Adrianas jüngere Schwester Noemí Reisfeld als Sozialarbeiterin angestellt war.

AMIA Noemí, Mutter von zwei Mädchen, kam in den Trümmern des AMIA-Gebäudes ums Leben. Insgesamt 85 Menschen wurden bei dem Bombenattentat getötet: Beschäftigte des Gemeindezentrums, im Gebäude arbeitende Handwerker, Besucher der AMIA-Arbeitsvermittlung und der Verwaltung des jüdischen Friedhofs, Passanten und Mitarbeiter benachbarter Geschäfte.

Angehörige der Opfer protestieren immer wieder vorm Justizpalast.

Der gewaltsame Tod ihrer Schwester riss Adriana Reisfeld aus einem bis dahin normalen Leben. »Auch wir Angehörige wurden zu Opfern. Seitdem kämpfen wir für Gerechtigkeit«, sagt die Argentinierin.

Doch auch ein Vierteljahrhundert nach dem blutigen Anschlag ist keiner der Schuldigen bestraft worden. Und bis heute hat Argentiniens Justiz nicht erhellt, wer das Verbrechen plante, vorbereitete und ausführte.

justiz Kurz nach dem Anschlag begannen Adriana Reisfeld und andere Argentinier, jeden Montag um 9.53 Uhr vor dem Justizpalast in Buenos Aires Aufklärung zu fordern. »Zu unserer Gruppe gehörten Angehörige von Anschlagsopfern, aber auch Menschen, die einfach frustriert waren von der Untätigkeit der Justiz.«

Zwei Jahre zuvor war in Buenos Aires bereits ein Bombenanschlag auf die Botschaft Israels verübt worden. Dabei wurden 22 Menschen getötet. Doch die Ermittlungen kamen nicht voran.
In den ersten Jahren demonstrierte die Gruppe, die sich Memoria Activa (Aktive Erinnerung) nannte, schweigend. Dann fing sie an, ihre Forderungen laut kundzutun. Doch drinnen im Justizpalast wurde der Ruf nach Gerechtigkeit nicht gehört.

»Am Anfang arbeiteten wir alle zusammen: die Familien der Opfer und die Institutionen«, blickt Adriana Reisfeld zurück. Die Institutionen, das waren die AMIA und der Dachverband jüdischer Organisationen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas).

»Doch mit der Zeit merkten wir Ange­hörige, dass Dinge hinter unserem Rücken geschahen, dass Vertuschung im Gange war.«

ermittlungen Was Adriana Reisfeld äußert, ist bewiesen: Bei den Ermittlungen in den Jahren nach dem Anschlag konstruierten Richter, Staatsanwälte und Geheimdienst eine falsche Fährte und verschleierten den wahren Hergang der Dinge. Ans Licht kam das im Laufe des 2001 begonnenen Gerichtsprozesses gegen die angeblichen lokalen Verantwortlichen des Attentats.

So sickerte durch, dass der Richter Juan José Galeano dem Angeklagten Carlos Telleldín rund 400.000 Dollar dafür gezahlt hatte, eine Gruppe von Polizisten der Tatbeteiligung zu bezichtigen. Das Geld stellte der argentinische Geheimdienst SIDE zur Verfügung.

Telleldín, ein Autohändler, war der letzte Besitzer des Kastenwagens gewesen, in dem offenbar die Bombe vor der AMIA explodierte. Wegen Telleldíns erkaufter Aussage, die sich als falsch herausstellte, wurde 2003 auf Antrag der klagenden Gruppe Memoria Activa Richter Galeano seines Postens enthoben und ein Jahr später dann auch zwei Staatsanwälte. Das skandalöse Verschleierungsmanöver hatte zur Folge, dass der Prozess nach drei Jahren mit dem Freispruch aller 22 Angeklagten endete: ein Fiasko.

»Wir haben an jeder Gerichtsverhandlung teilgenommen, haben auf der Anklagebank jene Personen gesehen, die wir für die Mörder unserer Kinder hielten – eine Tortur«, erinnert sich Olga Degtiar. Ihr Sohn Cristian, ein Jurastudent, hatte mit 21 Jahren bei dem Attentat sein Leben verloren.

»Wir dachten, wir würden die Wahrheit erfahren – und dann standen wir mit leeren Händen da. Das war hart«, sagt Cristians Mutter.

Mit leeren Händen stehen die Angehörigen der Opfer auch heute da. »Dass 25 Jahre nach einem solch entsetzlichen Terroranschlag immer noch Straflosigkeit herrscht, liegt daran, dass diese Straflosigkeit konstruiert wurde. Hinter ihr steckt keine Unfähigkeit, sondern Absicht«, glaubt der Jurist Rodrigo Borda, Anwalt von Memoria Activa.

Ermittlungen Wahrheit Adriana Reisfeld und Olga Degtiar, die seit zweieinhalb Jahrzehnten für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen, wirken erschöpft. Immerhin: Die argentinische Justiz hat einige Verantwortliche der absichtlich fehlgeleiteten Ermittlungen kürzlich bestraft.

Der damalige Richter Juan José Galeano wurde im vergangenen Februar zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt – die Staatsanwälte kamen mit Bewährungsstrafen davon. Viereinhalb Jahre Haft erhielt der Ex-Geheimdienstchef.

Freigesprochen aber wurde ein Politiker, dem die Staatsanwaltschaft eine Mitschuld am Vertuschungsmanöver gegeben hatte: Ex-Präsident Carlos Menem, heute Senator. Menem gilt als Schlüsselfigur: einerseits in der Vorgeschichte des AMIA-Attentats – wegen seiner undurchsichtigen Waffengeschäfte, die auch in den Nahen Osten führten. Andererseits weist vieles darauf hin, dass Menem eine Rolle bei der Verschleierung des Anschlags spielte.

Denn was sollte eigentlich vertuscht werden? Laut dem Gerichtsurteil vom Februar 2019 ging es Galeano und Co. darum, die Ermittlungen von der sogenannten »syrischen Fährte« wegzuleiten. Diese führte in die Nähe des Präsidenten höchstpersönlich, der zum Zeitpunkt des Anschlags seit fünf Jahren im Amt war.

Ein syrischstämmiger Geschäftsmann namens Alberto Kanoore Edul war in den Tagen nach dem Attentat ins Visier der Ermittler geraten. Dessen Familie hatte gute Kontakte zu Carlos Menem, ebenfalls syrischer Abstammung.

Laut der Anklage im Prozess um die Verschleierung war es Menems Bruder Munir, der Richter Galeano 1994 aufforderte, nicht weiter gegen den verdächtigen Geschäftsmann zu ermitteln. Daraufhin verschwand Beweismaterial, wie etwa Kassetten mit abgehörten Telefonaten Ka­noore Eduls, und die »syrische Fährte« schlief ein.

»Es gibt klare Hinweise darauf, dass Syrien etwas mit dem Anschlag zu tun hatte. Aber geredet wird nur über den Iran«, sagt die Soziologin Beatríz Gurevich. Tatsächlich ist die offizielle These in Argentinien seit Langem, dass der Iran hinter dem At­tentat steckte.

Sonderermittler Alberto Nisman, der 2015 mit einer Kugel im Kopf in seiner Wohnung gefunden wurde, hatte 2006 sieben iranische Funktionäre und einen Libanesen angeklagt. Nisman glaubte, dass Teheran das Attentat in Auftrag gab und die libanesische Hisbollah es ausführte. Der Beweggrund sei gewesen, dass Argentinien unter Präsident Menem einen Vertrag zur Lieferung von Atomtechnologie nicht erfüllt hatte. Gegen fünf der iranischen Beschuldigten laufen seit 2007 internationale Haftbefehle, die der Iran beharrlich ignoriert.

Dass Teheran nicht kooperiert, ist für Argentiniens Justiz und Politik die ideale Rechtfertigung dafür, dass die Aufklärung nicht von der Stelle kommt. Die »syrische Fährte« spielt bei den Ermittlungen nach wie vor keine Rolle. Und auch die Möglichkeit, dass Syrien und der Iran das Verbrechen gemeinsam planten, wurde bislang außer Acht gelassen.

Die Soziologin Beatríz Gurevich ist nicht die Einzige, der sie plausibel erscheint: »Der Iran könnte Syrien finanziell oder technisch unterstützt haben.«

Seit Mai dieses Jahres muss sich in Bue­nos Aires erneut der Autohändler Carlos Telleldín vor Gericht verantworten, wegen dessen gekaufter Falschaussage der erste AMIA-Prozess für ungültig erklärt wurde.

Ohne argentinische Komplizen hätte das Attentat nicht ausgeführt werden können, aber Telleldín ist heute der einzige Angeklagte.

memorandum 25 Jahre nach der Tragödie ähneln die Ermittlungen dem Trümmerhaufen des zerbombten jüdischen Gemeindezentrums. Der ebenfalls nicht aufgeklärte Tod von Staatsanwalt Nisman hat einen weiteren großen Schatten auf den Fall geworfen. Nisman hatte kurz vor seinem Tod die damalige Präsidentin Cristina Kirchner der Verschleierung des Attentats bezichtigt. Zwei Jahre zuvor hatte Kirchners Regierung mit dem Iran überraschend eine Zusammenarbeit bei der Aufklärung vereinbart. Das umstrittene Memorandum wurde vom argentinischen Parlament ratifiziert, 2015 dann auf Bestreben der jüdischen Institutionen AMIA und DAIA von der Justiz für verfassungswidrig erklärt.

Ex-Präsidentin Cristina Kirchner soll sich demnächst vor Gericht verantworten.

Aufgrund der Klage Nismans soll sich Kirchner demnächst vor Gericht verantworten. Die Politikerin, gegen die auch mehrere Korruptionsverfahren laufen, interessiert sich allerdings mehr für die im Oktober anstehenden Wahlen, bei denen sie für das Amt der Vizepräsidentin kandidiert.

Verstrickung Wegen der Verstrickungen zwischen Justiz, Politik und Geheimdienst glaubt ein Großteil der Argentinier schon lange nicht mehr, dass je Licht in das Dunkel des größten Terroranschlags in der Geschichte des Landes kommen wird.

»Keine Regierung wollte bisher die Aufklärung«, urteilt der Jurist Mario Cimadevilla. Die Regierung von Mauricio Macri, deren AMIA-Sonderermittler er bis März 2018 war, schließt er ein. Cimadevilla ging im Streit, er warf dem Justizminister Vertuschung vor und dem Präsidenten selbst Desinteresse.

Jetzt will Macris Regierung ein Gesetz auf den Weg bringen, das einen Prozess gegen die iranischen Angeklagten in deren Abwesenheit ermöglichen würde.

DAIA Der jüdische Dachverband DAIA scheint dafür offen zu sein, aber viele Angehörige der Opfer fürchten, ein solcher Prozess könnte die Wahrheit über das Attentat endgültig begraben. »Die jüdischen Institutionen wollten den Fall AMIA immer schließen«, zeigt sich Olga Degtiar enttäuscht.

Die Gruppe Memoria Activa distanzierte sich schon wenige Jahre nach dem Anschlag von den jüdischen Verbänden. »Sie waren Komplizen der Vertuschung«, so das harte Urteil von Adriana Reisfeld, die dem damaligen AMIA-Vorsitzenden Rubén Be­raja vorwirft, das Verschleierungsmanöver von Richter Galeano gekannt und akzeptiert zu haben. Beraja musste sich deshalb vor Gericht verantworten, wurde aber im Februar freigesprochen.

Wenn am 18. Juli vor dem neuen AMIA-Gebäude um 9.30 Uhr der zentrale Gedenkakt stattfindet, wird nur ein Teil der Angehörigen dabei sein. Memoria Activa wird sich, wie schon vor 25 Jahren, vor dem Justizpalast versammeln.

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