Nationalität

Rückkehr nach Sefarad

Die Behörden in Madrid rechnen damit, dass rund 90.000 Sefarden einen spanischen Pass beantragen werden. Foto: Thinkstock

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Rückkehr nach Sefarad

Dank eines neuen Gesetzes erwarten die jüdischen Gemeinden Tausende Einwanderer aus Südamerika

von Michael Ludwig  04.05.2015 20:38 Uhr

Als sie nahe der amerikanischen Marinebasis im südspanischen Rota eine Synagoge einrichten wollte, machte Amanda Gipson eine höchst ungewöhnliche Entdeckung. Beim Stöbern in einem abseits gelegenen Lagerhaus fand sie drei staubige Torarollen und einen Chanukkaleuchter – verloren wirkende religiöse Überbleibsel einer Gemeinschaft amerikanischer Juden, die vor Jahren hier ihren Militärdienst leisteten.

Gipson empfand ihren Fund als Wink des Schicksals, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Sie musste viele Schwierigkeiten überwinden, denn in einer Garnisonsstadt eine funktionierende jüdische Gemeinde aufzubauen, ist wegen der ständigen Fluktuation keine leichte Angelegenheit. Doch die junge Amerikanerin schaffte es. Die Gemeinde von Rota erlaubte ihr, städtische Räume mitzubenutzen, was vieles erleichterte. »Wir haben heute 15 Mitglieder, alles Juden aus dem Ort«, sagt Gipson nicht ohne Stolz und fügt trotzig hinzu: »Wir sind eine kleine Gemeinde, aber wir wollen hier bleiben.« Hin und wieder kommen Soldaten vorbei, um am Gebet teilzunehmen.

Man könnte das, was in Rota geschehen ist, ein Symbol nennen – dafür, dass jüdischen Leben auf der Iberischen Halbinsel wieder im Kommen ist. Den Grundstein dafür hat die Madrider Regierung vor etwa einem Jahr gelegt, als sie ein Gesetz auf den Weg brachte, das den Nachfahren sefardischer Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben wurden, ein Rückkehrrecht einräumt. Vor einigen Wochen hat es im Kongress die letzte Hürde genommen. Der frühere Justizminister Alberto Ruiz Gallardon sprach von einer historischen Schuld, die nun endlich abgetragen werde. Die Behörden rechnen damit, dass rund 90.000 Sefarden aus aller Welt einen spanischen Pass beantragen werden – und das erste Ziel ihres Aufbruchs in eine neue Zukunft wird natürlich Spanien sein.

Antisemitismus Die meisten Emigranten werden aus Südamerika erwartet – und von dort vor allem aus Venezuela. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden, und die Regierung lässt seit Jahren einen Hang zum Antisemitismus erkennen. Vor nicht allzu langer Zeit besetzte die Polizei ein jüdisches Gemeindezentrum in Caracas, weil dort angeblich Waffen versteckt sein sollten.

Auch aus Argentinien wird mit vielen Juden gerechnet, die ihrem Land den Rücken kehren wollen. Die blutigen Bombenanschläge auf die israelische Botschaft in Buenos Aires 1992 und zwei Jahre später auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA, bei denen insgesamt 114 Menschen ums Leben kamen und rund 540 zum Teil schwer verletzt wurden, haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der dortigen Juden eingebrannt. Der mysteriöse Tod des Sonderermittlers Alberto Nisman, der den Anschlag auf die AMIA aufklären sollte und im Januar dieses Jahres unter bislang ungeklärten Umständen erschossen in der Badewanne seines Appartements aufgefunden wurde, haben das Vertrauen in die Regierung von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner nicht gestärkt. So sehr die eigenwillige Regierungschefin auch versucht, das Schicksal Nismans, der selbst zur jüdischen Gemeinde gehörte, vergessen zu machen, sie wird es so schnell nicht schaffen.

Schon einmal verließ eine größere Zahl argentinischer Juden das Land am Rio de la Plata. Zwischen 2001 und 2002 wanderten mehrere Hundert Familien nach Spanien aus, um der wirtschaftlichen Krise zu entkommen, die dem südamerikanischen Land auch gegenwärtig schwer zu schaffen macht. Damals kamen vor allem liberale Aschkenasim. Sie trafen in Spanien auf Sefarden, die wiederum zum großen Teil aus Marokko kamen und orthodox waren. Das ging nicht ohne Komplikationen ab. Inzwischen sind die anfänglichen Schwierigkeiten längst überwunden, vor allem die gemeinsamen Schulen haben die Juden aus den unterschiedlichen Herkunftsländern zusammengeführt und miteinander versöhnt. So wird es vermutlich auch diesmal sein.

Zielorte Gegenwärtig bereiten sich die jüdischen Gemeinden in Spanien auf die Ankunft der südamerikanischen Juden vor. Nach Ansicht von Jacobo Israel Garzon, der seit 2003 die Federación de Comunidades Judias de España (FCJE) leitet und 2011 von der Regierung mit einem Orden geehrt wurde, kommen vor allem drei Regionen als Zielorte infrage: »Zuwanderer, die sich schon im Pensionsalter befinden, werden sich vermutlich im Süden niederlassen – in der Gegend von Malaga, Torremolinos und Marbella, wo die Industrie keine beherrschende Rolle spielt, sondern eher das Freizeitangebot für Rentner.«

Zweiter wichtiger Anlaufpunkt wird Barcelona sein. Doch die 1,6-Millionen-Stadt rüstet sich für die Unabhängigkeit eines katalanischen Staates. Das bedeutet, dass die spanische Sprache zugunsten des Katalanischen in den Hintergrund gedrängt wird, was spanischsprachigen Südamerikanern nicht sonderlich gefallen wird. »Und dann bleibt«, so Garzon, nur noch Madrid, »wo wahrscheinlich die meisten Juden hinziehen werden, weil die Stadt viele Vorteile wie eine vergleichsweise starke wirtschaftliche Dynamik, politische Stabilität und ein intensives jüdisches Leben bietet.«

Intensives jüdisches Leben – das bedeutet vor allem die Synagoge im Stadtteil Chamberi in der Calle de Balmes und alles, was sich mit ihr verknüpft. Wer sie besucht, muss zuerst an schwer bewaffneten spanischen Polizisten vorbei. Die Wachsamkeit ist durchaus begründet: Am 24. Dezember 1976 explodierte dort eine Bombe, die schweren Sachschaden anrichtete. »Wir gehen davon aus, dass es das Werk der extremen Rechten war«, zitiert die spanische Tageszeitung El País den früheren Generalsekretär der jüdischen Gemeinde Madrids, Uriel Macias. Heute drohe vor allem von islamistischen Fanatikern Gefahr, sagt er.

Die Architekten haben das Gebäude bewusst unauffällig gestaltet. Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine Synagoge handeln könnte. Nur wer sich unmittelbar vor der mit Schmiedeeisen verkleideten Eingangstür befindet, bemerkt die beiden dort angebrachten Davidsterne.

MAdrid »Wir treten nach außen diskret in Erscheinung, sind kulturell aktiv, sozial engagiert und der Madrider Lebensart sehr verhaftet.« Mit diesen Worten beschreibt der amtierende Generalsekretär Raphael Benatar die Außenwirkung seiner Gemeinde. Sie ist Anlaufstelle für die rund 10.000 Juden, die in Madrid leben, 40.000 sind es im ganzen Land. Aber sie ist nicht die einzige – in den Madrider Stadtteilen gibt es drei weitere Synagogen, die allerdings kleiner sind; eine ist in Chamartin zu finden, die beiden anderen in La Moraleja und in Arturo Soria.

Nach Angaben von Raphael Benatar dient das jüdische Gemeindezentrum auch als Ort, an dem wichtige Besucher empfangen werden – beispielsweise Ministerpräsidenten und Staatsgäste aus Israel. Israels Premier Benjamin Netanjahu ist hier schon zu Gast gewesen, aber auch bedeutende Künstler wie der spanische Literaturnobelpreisträger Camilo José Cela und das frühere Königspaar Juan Carlos und Sofía. 1923 stattete Albert Einstein der Gemeinde einen Besuch ab, »leider hat sein Aufenthalt in der damaligen Presse keinen Niederschlag gefunden«, erklärt der frühere Gemeinde-Generalsekretär Uriel Macias.

Gewiss, die Zahl der in Spanien lebenden Juden wird mithilfe des Rückkehrrechts steigen, aber wird diese Entwicklung auch nachhaltig wirken? Werden die aus der ganzen Welt zurückkehrenden Sefarden die Iberische Halbinsel nur als Zwischenstation nutzen, um sich dann andere Heimstätten zu suchen? Das wäre nicht verwunderlich, denn Spaniens Wirtschaft liegt am Boden, und sie erholt sich nur sehr langsam. 25 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung haben keinen Job, bei den Jugendlichen sind es sogar mehr als 50 Prozent.

Aber nicht nur Neuankömmlinge, sondern auch Juden, die in Spanien geboren sind, denken über den Absprung nach oder haben ihn bereits vollzogen. Sie zieht es weniger in die wirtschaftlich prosperierenden europäischen Länder wie Großbritannien oder Deutschland als vielmehr nach Israel, dessen Arbeitslosigkeit bei vergleichsweise geringen sieben Prozent liegt und dessen Unternehmen wesentlich höhere Gehälter zahlen als die in Spanien.

Alija Luna Chacón ist eine dieser Auswanderer. Die junge Frau aus Madrid packte vor vier Jahren ihre Koffer, machte Alija und zog nach Tel Aviv. »Das, was mich bei meiner Entscheidung fortzugehen am meisten beeinflusst hat, war die wirtschaftliche Krise; das Gefühl, dass du, wenn du dein Studium beendet hast, höchstens eine Arbeitsstelle in einem Supermarkt bekommen kannst«, klagt sie gegenüber einem Reporter der Tageszeitung El Mundo.

Ähnlich äußert sich David (35), der vor einem Jahr seine Geburtsstadt Barcelona verließ und ebenfalls nach Tel Aviv übersiedelte: »Es gab für mich mehrere Gründe, das zu tun, die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat bei meiner Entscheidung aber eine wichtige Rolle gespielt. Sie ist es auch, die jeden Gedanken an eine Rückkehr zunichtemacht.« Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler arbeitet jetzt erfolgreich in der Internetbranche. Besonders drastisch bringt es der 27 Jahre alte Zahnarzt Gal Leiferman auf den Punkt: »Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich nicht früher nach Israel gegangen bin.«

Es gibt Linien, die sich zu Kreisen schließen. Die Vertreibung der Juden aus Spanien vor 500 Jahren ist so eine. Der argentinische Jude Martin Varsavsky, der in Spanien eine führende Position im Kommunikationsunternehmen Fon bekleidet, schreibt in seinem Blog: »Leider hat Spanien 1492 die Juden ausgewiesen, unter ihnen befanden sich zahlreiche Unternehmer. Von diesem Aderlass hat sich das Land bis heute nicht erholt. Was dem Land fehlt, sind Menschen, die bereit sind, unternehmerisches Risiko zu tragen.«

Die relativ wenigen Unternehmer in Spanien haben seiner Ansicht nach ein ausgesprochen schlechtes Image – sie werden als Ausbeuter gesehen, nicht als Motoren der Wirtschaft, die Arbeitsplätze schaffen. Varsavsky schreibt weiter: »Demgegenüber ist Israel ein Land der Unternehmer, das trotz seiner geringen Zahl von Einwohnern mehr Risikokapital anzieht als Spanien, Italien und Frankreich zusammen.« Viele hoffen nun, dass die neuen jüdischen Zuwanderer Spanien verändern werden.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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