Grossbritannien

Rabbiner auf Rädern

In Großbritannien ist das Fahrradfahren inzwischen der drittbeliebteste Massensport, sogar noch vor dem Fußball. Seit den Radsporterfolgen der Briten mag das nichts Besonderes sein – inzwischen aber hat das Zweiradfieber auch Rabbiner ergriffen.

Einer von ihnen ist Rabbi Geoffrey Hyman aus Ilford. Dass er mit dem Radfahren anfing, lag nicht an den Tour-de-France-Glanzleistungen des britischen Nationalteams, sondern hatte vielmehr etwas mit ihm selbst zu tun: »Vor 25 Jahren sagten mir Gemeindemitglieder, dass ich endlich wie ein richtiger Rabbiner aussehe. Ich wusste, was sie damit meinten: meinen sich rundenden Bauch.«

Um seine Gesundheit besorgt, stellte Hyman seine Ernährung um, kaufte sich Spezialkleidung und fing an, Rad zu fahren – eine Leidenschaft, die den orthodoxen Rabbiner seitdem nicht mehr loslässt. Vergangenes Jahr zu seinem 60. Geburtstag fuhr Hyman mit seinem italienischen Rennrad zwei Wochen lang sogar das »End-to-End-Rennen«, 1496 Kilometer vom südlichsten bis zum nördlichsten Zipfel Großbritanniens.

»Es ist unglaublich, welchem Druck man standhalten kann, wenn man regelmäßig Rad fährt«, erklärt Hyman. Mit der von ihm gegründeten Stiftung Rabbike Charitable Trust sammelte er durch die Fahrten auf seinem Drahtesel Gelder für sozial benachteiligte Jugendliche und für die Restaurierung einer alten Torarolle.

Zedaka Auch für Rabbiner Yossi Simon, den Direktor des Londoner Chabad-Jugendzentrums »Tzivos Hashem«, ist es wichtig, die Wohlfahrt mit dem Radfahren zu verbinden. »Wenn man schon fährt, warum das Ganze nicht mit einer Mizwa verknüpfen?«, meint er. Schon zweimal radelte der 42-Jährige die 100 Kilometer lange Strecke von London nach Brighton, um Spenden für sein Jugendzentrum zu sammeln.

Radfahren verbindet für Simon, der auch Gewichte im Fitnessstudio stemmt, die Seele mit dem Körper: »Wir müssen aus Negativem etwas Positives machen! Mit dem Lernen der Tora tun wir etwas für die Seele und mit Sport für den Körper, den wir nun einmal besitzen.«

Simon begann das Radfahren als Zweijähriger. Heute fährt er zwar nicht jeden Tag, aber ziemlich regelmäßig – oft um die zehn Kilometer, zusammen mit seinen Kindern, wie er sagt, »in Gottes Natur«. Ein Lycra-Outfit wie Hyman hat Simon allerdings nicht. Er fährt in Jogginghose, T-Shirt und schwarzer Weste.

Kreislauf Im Gegensatz zu Rabbi Simon düst Masorti-Rabbiner Jeremy Gordon seit fünf Jahren jeden Tag außer am Schabbat fast überallhin mit seinem Rennrad. Der 42-Jährige hat ausgerechnet, dass er pro Woche auf etwa 250 Kilometer kommt. Ein Rabbiner brauche das, sagt Gordon, »denn der Kopf arbeitet erst dann richtig, wenn man den Kreislauf in Schwung bringt«. Inmitten des Londoner Verkehrs empfindet Gordon dabei jedoch auch ein Gefühl der Verletzbarkeit. Er glaubt, »dass dieses Gefühl wichtig ist, um das Leben an sich zu verstehen«. Auch er beteiligt sich hin und wieder an Wohlfahrtsveranstaltungen. So nahm er vor zwei Jahren gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Rabbiner an einem Radrennen teil.

Die liberale Londoner Rabbinerin Alexandra Wright unterscheidet sich von ihren radelnden Kollegen darin, dass sie ihr Fahrrad gerade am Schabbat benutzt, weil das, wie sie sagt, »mehr im Einklang mit der Natur steht«. Man erfahre die Welt nur, wenn man »im göttlicheren Rhythmus« von drei Meilen pro Stunde geht. Mit dem Radfahren, meint Wright, sei es genauso, auch wenn es nicht ganz so langsam wie das Gehen ist: »Es bringt einen auf andere Gedanken, es ist eine Zeit des natürlicheren und mehr reflektierenden Wahrnehmens, gerade jetzt im Frühling, wenn alles anfängt zu blühen«, schwärmt Wright.

Die 57-Jährige hat das Radfahren erst vor ein paar Jahren bei einem Trekkingurlaub wiederentdeckt. Inzwischen hat sie sich ein Fahrrad mit einem Korb am Lenkrad zugelegt. Wright sieht ihr Rad als ökologisches Gefährt, das wenig kostet. Gerade nach den vergangenen Wochen, als in London mehrmals Smogalarm ausgerufen wurde, hält sie es für sehr sinnvoll.

Limmud Während Wright eher kurze Strecken zurücklegt, bewältigt ihr liberaler Kollege Rabbiner Aaron Goldstein auf seinem 18-Gang-Rennrad regelmäßig Distanzen von bis zu 70 Kilometern. Er lebt in Northwood am nördlichen Außenrand Londons und muss oft in die Stadtmitte. Auch zum Limmud-Lerntreffen vergangenes Jahr im Juni fuhr der 43-Jährige die mehr als 150 Kilometer von London nach Birmingham mit dem Fahrrad.

Doch Radfahren ermöglicht es Goldstein nicht nur, von A nach B zu kommen: »Früher schrieb ich meine Schabbatpredigt im Zug, heute schreibe ich sie im Kopf auf meinen Radfahrten, wenn ich die verschiedenen Gegenden Londons durchquere – Viertel mit Sozialwohnungen, mit starker ethnischer Prägung der einen oder anderen Art oder auf dem Weg zu meinem portugiesischen Lieblingscafé. All das hilft«, sagt Goldstein. Auch seiner Gemeinde empfiehlt der Rabbiner, aufs Fahrrad umzusatteln. Als seine Synagoge im März ihr 50-jähriges Bestehen feierte, lud er seine Gemeinde zu einem gemeinsamen Radausflug ein.

Mag sein, dass Guy Elyahou, der Chef des britischen Makkabi-Radteams, jetzt auf die Anmeldung dieser Rabbis wartet. »Wir waren zusammen mit Kanada, Australien und Israel eines der wenigen nationalen Teams, die bei der letzten Makkabiah ein vollständiges Fahrradteam an den Start brachten«, sagt er. »Doch blieb der Medaillensegen aus.« Vielleicht bedarf es gerade dafür des göttlichen Rhythmus eines Rabbis auf zwei Rädern.

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