Rolf Stürm hatte am 14. Juni in Rom ein prägendes Erlebnis: Auf einem Wagen zwischen Colosseum und Circus Maximus stand er euphorisch mitten in der Pride. Auf der einen Seite von der Menge bejubelt, auf der anderen ein Hass-Chor, der ihn und andere queere Jüdinnen und Juden versuchte auszuschließen und einzuschüchtern. Trotz der Konfrontation fühlte der 75-Jährige für einen Augenblick Triumph und Freude. Die Situation zeigt, wie sich die queere Bewegung zwischen Solidarität und Spannungen befindet.
Von außen gilt sie als eine der progressivsten gesellschaftlichen Kräfte – offen, solidarisch, internationalistisch. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist für viele queere Jüdinnen und Juden jedoch keine mehr. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen wird innerhalb der LGBTQ-Community heftig über Solidarität, Identität und Antisemitismus gestritten – auch in der Schweiz. Im Zentrum steht dabei der Verein Keschet, der sich für jüdische Sichtbarkeit in der queeren Szene einsetzt – und sich zunehmend mit einer schwierigen Gratwanderung konfrontiert sieht. Keschet-Mitglieder berichten, dass sie sich in der queeren Szene teils unsicher fühlen, wenn über Israel oder den Nahostkonflikt gesprochen wird. »Oft kippt die Diskussion sehr schnell in antiisraelische oder antisemitische Stereotype«, sagt Vorstandsmitglied und Keschet-Mitgründer Rolf Stürm, der früher Arzt und Strahlenschutzexperte war. »Manche Menschen merken gar nicht, dass sie Grenzen überschreiten.«
Wir wollen keine Spaltung. Aber wir wollen, dass Antisemitismus auch in queeren Kontexten benannt wird.
Keschet, hebräisch für »Regenbogen«, startete 2022 in Basel informell. Der Verein versteht sich als Plattform für jüdische LGBTQ-Personen in der Schweiz. Sein Ziel ist es, Räume zu schaffen, »in denen man gleichzeitig queer und jüdisch sein kann – ohne einen Teil seiner Identität abspalten oder gar verleugnen zu müssen«, wie Stürm sagt. Keschet organisiert deshalb Diskussionsabende, Workshops und Begegnungen und arbeitet mit queeren Organisationen wie Network (gay leadership) und Pink Cross zusammen, bei denen queere Menschen, jüdisch, muslimisch, kurdisch oder andere Minderheiten miteinander sprechen sollen – ein Versuch, verhärtete Fronten zu lösen, aber vor allem eine differenzierte Sprache zu fördern. »Wir wollen keine Spaltung. Aber wir wollen, dass Antisemitismus auch in queeren Kontexten benannt wird.«

Jüdische Perspektiven ernster genommen
Die aktuelle Polarisierung entzündete sich an einer Bewegung, die weltweit unter dem Label »Queers for Palestine« auftritt. Deren Aktivistinnen und Aktivisten verstehen sich als solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung und kritisieren Israels Politik scharf – viele fordern nicht nur einen Boykott israelischer Institutionen, sondern die Abschaffung des Zionismus. Kritikerinnen und Kritiker, darunter auch Keschet, werfen der Bewegung vor, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu vereinfachen und antisemitische Narrative zu reproduzieren. »Es geht nicht darum, dass man Israels Regierung nicht kritisieren darf«, erklärt Stürm, »aber wenn aus Kritik Hass auf Jüdinnen und Juden wird, überschreitet das eine rote Linie.«
Keschet fordert, dass jüdische Perspektiven in queeren Diskursen ernster genommen werden. Der Verein betont, dass einige seiner Mitglieder sich weiterhin solidarisch mit Palästinenserinnen und Palästinenser fühlen – aber eben auch mit Israel, dem einzigen Staat, in dem queere Menschen im Nahen Osten rechtlich geschützt sind. »Man kann gegen die Politik Netanjahus sein und trotzdem Angst haben, wenn ‚Queers for Palestine‘-Plakate Israel als Ganzes dämonisieren«, so Stürm.
Nur teilweises Abdeckens eines Transparentes
Die Spannungen wurden im Sommer 2024 besonders sichtbar, als mehrere Pride-Organisationen in Europa – darunter auch in der Schweiz – über ihre Haltung zu Palästina diskutierten. Auf Transparenten und Social-Media-Posts tauchten Parolen wie »From the river to the sea« auf, die von vielen Jüdinnen und Juden als Aufruf zur Vernichtung Israels verstanden werden. In Zürich und Bern kam es zu Kontroversen darüber, ob solche Slogans auf Pride-Veranstaltungen Platz haben sollten. »Unser Verein hat immer wieder Kontakt mit Pride-Veranstaltern in der Schweiz aufgenommen, um darauf hinzuweisen, dass sich ‚Queers for Palestine‘ nicht an die Awarness-Charta gehalten hat. Im Nachgang der Pride im Juni in Zürich, hatten wir verschiedene Vorfälle gemeldet, unter anderem auch ein tätlicher Angriff auf eine Person unserer Gruppe. Das Sicherheitspersonal der Veranstaltung verwies uns lediglich darauf, dafür sei die Polizei zuständig. Aber es ist die Aufgabe des Pride-Komitees, solche Vorfälle zu vermeiden, nicht wegzuschauen. Einmal nur hatte die Polizei das teilweise Abdecken eines Transparentes durchgesetzt.«
Das ist für Stürm, der sich mit Engagement für seinen Verein einsetzt, mehr als problematisch. Er verstehe, dass die Prides unter enormem finanziellem Druck stehen, denn einerseits sanktioniere US-Präsident Trump Sponsoren und andererseits würden »Queers for Palestine« die gleichen Geldgeber wegen sogenanntem »Pink Washing« verteufeln. Aber die Pride-Komitees dürften ihre Augen und Ohren vor Antisemitismus nicht verschließen, wollen sie glaubwürdig bleiben, findet er.
Dann erklärt er weiter: »Wenn an einer Pride Transparente mit Hakenkreuzen und Davidsternen mitgeführt werden und damit antisemitischer Hass offen zur Schau gestellt wird, so ist das für uns jüdische Menschen, deren Familien den Holocaust überlebt haben, sehr schmerzhaft.« Es sei ein Gefühl der Ohnmacht und der Erniedrigung. Dass eine Veranstaltung wie die Pride große Sicherheitsvorkehrungen abverlangt, sei verständlich. Dennoch würde er sich wünschen, dass diese Veranstaltung, die sich auf die Flagge schreibt, ein inklusiver Ort zu sein, keinen Platz für Hassbotschaften habe. Zudem findet er, dass nicht-queere Themen wie der Nahostkonflikt eigentlich von einem Demonstrationszug wie der Pride ferngehalten werden müssen. »Doch auch auf diese Forderung wird bis heute nur mit dem Verweis auf Nichtdurchsetzbarkeit reagiert.«
Die Pride-Komitees dürften die Augen vor Antisemitismus nicht verschliessen.
Keschet reichte deshalb auch bei der LGBTQ-Fachstelle des Kantons Basel-Stadt ein Unterstützungsgesuch für ein Handbuch für künftige Pride-Veranstaltungen ein, um die psychologischen und rechtlichen Grundlagen gegen Antisemitismus zu erläutern. Der Kanton winkte jedoch ab, Keschet blitzte ab. Mitte November unterbreitete der Verein zudem einen Sensibilisierungsbeitrag zur Aktionswoche gegen Rassismus, die im März 2026 durchgeführt wird. Hier hofft Stürm nun auf positiven Bescheid.
Dilemma der Sprache
Innerhalb der queeren Szene verläuft die Bruchlinie nicht nur zwischen »pro-israelisch« und »pro-palästinensisch«. Es geht auch um die Frage, wie weit Solidarität gehen darf, wenn sie andere Minderheiten ausgrenzt. Keschet argumentiert, dass queere Räume nicht inklusiv sein können, wenn sie Jüdinnen und Juden durch pauschale Israel-Feindlichkeit ausschließen. »Viele queere Menschen wollen sich für Menschenrechte einsetzen«, sagt Keschet-Präsident Stürm, »doch es fehlt oft das Bewusstsein, dass Antisemitismus eine eigene Form von Rassismus ist – mit spezifischen Mustern, die sich nicht einfach in das klassische Links-rechts-Schema einordnen lassen.« Das Dilemma zeige sich auch in der Sprache: Als Jude empfinde er Begriffe, die Israel als Kolonialmacht oder Apartheidstaat bezeichnen »als Angriff auf unsere Existenz«.

Der Verein Keschet sieht in den aktuellen Spannungen jedoch ein tieferliegendes Problem: Die queere Bewegung, traditionell geprägt von internationaler Solidarität und intersektionalem Denken, ringt damit, Widersprüche innerhalb der eigenen Reihen auszuhalten. »Viele Aktivistinnen und Aktivisten wollen eindeutig auf der Seite der Unterdrückten stehen. Doch dabei übersehen manche, dass auch Jüdinnen und Juden marginalisierte Gruppen sind – und dass Antisemitismus nicht einfach eine historische Kategorie ist, sondern eine gegenwärtige Realität.«
Keschet versucht, dieser Komplexität Raum zu geben. Man setzt auf Dialog statt Konfrontation und organisiert Veranstaltungen, die jüdische und palästinensische queere Perspektiven zusammenbringen sollen. Ziel sei es, Bewusstsein zu schaffen, ohne moralisch zu verurteilen. »Viele wissen gar nicht, welche antisemitischen Bilder sie reproduzieren, wenn sie bestimmte Parolen übernehmen«, heißt es aus dem Vorstand. »Darüber offen zu sprechen, ist der erste Schritt. Dieses Unwissen ist schon fast gar erbärmliche Dummheit, wenn der Basler alternative Christopher Street Day mit roten Hamasdreiecken beworben wird und eine ungebildete Meute einer Sprecherin zujubelt, die ihre Rede mit ‚There is no love without Intifada’ beendet. Denn erstens war ‚love is love’ der Abstimmungsslogan für die Ehe für alle und zweitens ist Intifada der Schlachtruf einer Terrororganisation, die Juden und Schwule gleichermassen abschlachtet.«
Doppeltes Coming-Out
Auch innerhalb der Organisation selbst gibt es Debatten über Prioritäten und Ressourcen. »Auch wir fühlen uns verpflichtet, unseren Argumente-Katalog zu überarbeiten – und das in Zusammenarbeit mit Partnern in Berlin und Düsseldorf. Die Leute dort sind viel weiter, wir müssen nachziehen«, so Stürm, für den neben den politischen Spannungen auch die persönliche Geschichte der Mitglieder eine wichtige Rolle spielt. Aufgewachsen in Bern, erlebte er eine antireligiöse Kindheit. Seine Mutter, eine deutsche Jüdin, sprach kaum über ihre Verfolgungsgeschichte. Sein Vater war aus der Kirche ausgetreten. Früh suchte Rolf Stürm Orientierung: In der ersten Klasse bereits erklärte er der Lehrerin, dass er nicht an Gott glaube, und spürte, dass er anders sei. Mit 14 Jahren wurde er in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen und fand Antworten auf viele Fragen.
Im Alter von 29 Jahren heiratete er, erkannte jedoch später seine Homosexualität. Nach der Scheidung fand er schließlich Freiheit und Klarheit für sich. Während eines Postdocs in Houston engagierte er sich in der schwul-lesbischen jüdischen Gemeinde und brachte diese Erfahrungen zurück in die Schweiz, wo er an der Gründung der Aids-Hilfe beider Basel, von Gay Sport und Queer Officers mitwirkte. Bereits 1972 hatte er als Offiziersanwärter sein Coming-out als Jude; 1984 folgte sein Coming-out als schwuler Hauptmann. Als Kommandant blieb er demonstrativ dem Blutspenden fern, denn damals durften Schwule wegen möglicher HIV-Übertragung nicht Blut spenden, und versteckte sich nicht hinter einer vorgetäuschten dienstlichen Dringlichkeit.
Stürm betont, dass Identitäten keine Schnittmenge, sondern eine Vereinigungsmenge bilden. Junge Menschen möchte er motivieren, ihre Fähigkeiten zu kombinieren statt in Konkurrenz um Opferrollen zu treten. Offenheit und Ehrlichkeit sind für ihn großgeschrieben. So ist er im Kampf gegen Antisemitismus auch überzeugt: »Queerness bedeutet, Unterschiede auszuhalten. Das gilt auch, wenn es um jüdische Identität geht. Es braucht keine völlige Einigkeit – nur die Bereitschaft, einander zuzuhören.«