Bekanntlich hat Israel kein Hinterland, aber hätte es eins, so wäre es die Upper West Side von Manhattan. Die Gegend ist nicht so ostentativ jüdisch wie die von Charedim dominierten Viertel in Brooklyn: Man sieht hier kaum Männer mit Hut und Pejes und keine Frauen mit Perücke oder Kopftuch, die Kinderwagen schieben. Aber man braucht nicht die Ohren zu spitzen, um auf der Straße Hebräisch zu hören. Außerdem gibt es ziemlich viele Supermärkte mit koscheren Produkten – der berühmteste unter ihnen: »Zabar’s«, Ecke Broadway und 80. Straße. Schade nur, dass »West Side Judaica« nicht mehr existiert, das war ein jüdischer Buchladen voll silberner Menoras und Tschatschkes, in dem sich an Wochentagen die Männer versammelten, um Mincha oder Maariw zu beten.
Noch schlimmer ist allerdings, dass »Colbeh« zugemacht hat. Colbeh war ein koscherer Perser in Midtown, vom Dekor her ein wenig altertümlich, aber kochen konnten die Jungs. Wo, bitte, soll der Mensch jetzt hin, wenn ihn plötzlich Heißhunger nach Ghorme Sabsi überfällt? Nach Gondi? Nach Asch-e anar?
Draußen ist Cocktailwetter
Ach, die persische Küche! Sie ist vielleicht die am meisten unterschätzte Cuisine der Welt. Tout le monde isst französisch, an jeder Straßenecke findet man einen Italiener oder Chinesen, aber der Iran kommt in der westlichen Welt kulinarisch kaum vor. Leuten, die keine Ahnung haben, gilt das iranische Essen als Variante der nahöstlich-osmanischen Küche. Aber das ist nicht wahr, die Perser kochen ganz eigen, wie es sich für eine Hochkultur gehört. Viele Früchte, auch in Fleischgerichten: Aprikosen, Feigen, Granatapfelkerne. Viele Kräuter. Und dann dieser herrlich lockere Reis mit der goldbraunen Kruste, für den man im Notfall dem Koch seine Großmutter vor die Füße legen würde! Und natürlich haben die Juden, die, wie jeder weiß, seit 2700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Iran leben – die ersten Juden wurden unter dem assyrischen Großkönig Tiglat-Pileser III. nach Persien verschleppt –, eine koschere Variante der iranischen Küche entwickelt.
In New York leben nicht ganz so viele jüdische Iraner wie in Israel oder Los Angeles. Aber es sind doch genug, dass der Verlust von Colbeh eine empfindliche Leerstelle gerissen hat. Die wurde nun geschlossen: In der Upper West Side (Ecke Columbus Avenue und 85. Straße) hat »Eshel« seine Tore geöffnet. Eshel ist ein Wort, das »Tamariskenbaum« bedeutet und aus der Bibel stammt (1. Buch Mose 21,33). Die Rabbiner sagten, es sei ein Akronym – Alef, Lamed, Schin – und stehe für die Gastfreundschaft: Alef für achila (Essen), Schin für schtija (Trinken), Lamed für lina (Unterkunft). Kann ein Restaurant einen schöneren Namen haben? Also hinein.
Erster Eindruck: Das Eshel ist um mehrere Grade vornehmer als weiland das Colbeh. Eine breite Bar mit bauchigen Flaschen, hinter der ein leibhaftiger Barkeeper waltet; ein Segment mit kleineren Tischen; ein paar Stufen hinauf eine weitere Fläche für größere Gesellschaften. Natürlich (schließlich sind wir in Amerika) wird der Gast – wie einst in der DDR – platziert. Der ältere Mann mit der schwarzen Kippa, der für den Gast den Weg durchs Restaurant bahnt, könnte der Eigentümer höchstpersönlich sein, ist aber zu beschäftigt für ein Gespräch.
Nun tanzen mehrere dienstbare Geister einen Reigen um den Fremden: zwei junge Männer, die Leitungswasser nachschenken, eine junge Dame, die die Bestellung aufnimmt. Draußen ist Cocktailwetter, es regnet junge Hunde.
Eshel: Alef für achila (Essen), Schin für schtija (Trinken) und Lamed für lina (Unterkunft).
Der Gast entscheidet sich für einen persischen Julep. Einen bitte was? Der »Mint Julep« ist ein klassischer Drink des amerikanischen Südens: Bourbon, Zuckersirup, zerstoßenes Eis, frische Pfefferminzblätter. Doch was ist ein persischer Julep? Nun, er schmeckt … anders. Entdecken wir hier etwa Rosenwasser? Ja, Rosenwasser. Der erste Schluck ist befremdlich, der zweite interessant, nach dem dritten will man unbedingt mehr von dem Zeug.
Eigentlich wäre jetzt die Zeit für Gondi, das ist die persische Variante der Mazzeknödelsuppe. Aber Gondi steht nicht auf der Speisekarte. Also entscheidet der Gast sich für ein Carpaccio von der Aubergine. Die Aubergine, so heißt es, sei die Kartoffel des Iran, und der Gast hatte ja gute Vorsätze: Er wollte von jedem Gericht eine Kostprobe mit nach Hause bringen. Aber bei diesem Auberginencarpaccio erweist sich das als Ding der Unmöglichkeit. Alle Stricke der Zurückhaltung reißen. Waren das Granatapfelkerne da drin? Was für eine raffinierte Gewürzmischung entfaltet sich da? Und könnte man in diesem Gericht bitte zwei Stunden lang baden? Hauptgang: Sultani Dschudsche. Dschudsche Kebab besteht aus Hühnchenstücken, die vor dem Grillen so lange in Olivenöl, Limettensaft, Zwiebeln, Safran und Salz eingelegt wurden, bis sie aufhörten, langweilig zu sein. Da der Gast die königliche Variante bestellt hat, bekommt er auch noch einen Hackfleischspieß dazu, der auf der Zunge zergeht. Das alles ist gut bis zum Wahnsinn. Der Cabernet Sauvignon vom Carmel, den der Gast dazu trinkt, kostet 18 Dollar und ist jeden Cent wert.
Wie die Orgasmusszene aus »Harry und Sally«
Beilage: israelischer Salat, da kann man ja nichts falsch machen. Aber der Albalureis, den der Gast dazu verputzt, dieser Reis ist eine lockere Offenbarung. Denn dieser Reis beherbergt Sauerkirschen, und wer nun nicht den dringenden Wunsch verspürt, die Orgasmusszene aus Harry und Sally nachzuempfinden, dem ist auf Erden nicht mehr zu helfen. Die Portionen sind hier so wenig Nouvelle-Cuisine-haft, dass es dem Gast tatsächlich gelingt, eine Kostprobe übrig- und einpacken zu lassen. Unterdessen hat sich am Nebentisch, der leider wackelt, ein nettes Ehepaar niedergelassen. Und es erweist sich, dass der Mann mit der schwarzen Kippa, bei dem es sich vielleicht um den Eigentümer handelt, doch nicht ganz so schweigsam ist. Tja, Farsi müsste man können! Weil es kein Safraneis gibt (große Enttäuschung), bestellt der Gast halt Knafi-Eis zum Nachtisch. Nicht schlecht. Man bemerkt kaum, dass hier wegen Kaschrut mit Milchersatz gearbeitet wurde.
Am Schluss hat der Gast (inklusive 20 Prozent Trinkgeld) 222 Dollar ausgegeben. Für Manhattan ist das nicht teuer. Und in einer Plastiktüte trägt er immerhin noch eine Mahlzeit für Frau und Kind nach Hause.
Das Eshel finden Sie in der Columbus Avenue 507 in New York City.