Ägypten

»Noch sind wir nicht tot«

Anti-Mursi-Proteste auf dem Kairoer Tahrir-Platz, Ende Juli 2013 Foto: Reuters

Als Magda Haroun kürzlich in der von Kämpfen erschütterten ägyptischen Hauptstadt unterwegs war, sah sie einen Mann, der sich über die Leiche eines Soldaten beugte. »Nicht einmal ein Jude würde so etwas tun«, hörte sie ihn sagen.

Haroun, Präsidentin der jüdischen Gemeinde Ägyptens, ist nicht erfreut, wenn sie auf der Straße antisemitische Beschimpfungen hört. Zu wissen, dass die Kirchen koptischer Christen niederbrennen, macht sie nervös. Die Kopten sind eine viel größere religiöse Minderheit als die winzige jüdische Gemeinde im Land. Haroun geht davon aus, dass die meisten im Land vergessen haben, dass es überhaupt noch Juden in Ägypten gibt.

Demonstranten Als vor einigen Wochen Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz zusammenströmten und die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi forderten, war Magda Haroun mit dabei. »Die Menschenmassen waren atemberaubend«, sagt sie. »Die Einigkeit zwischen den Menschen war fantastisch. Einige erkannten mich, weil ich im Fernsehen aufgetreten bin. Sie schüttelten mir die Hand und sagten: Gott segne Sie. Sie sind eine wahre Ägypterin.«

Mit 61 Jahren ist Haroun die Jüngste von 14 Frauen, aus denen die aussterbende jüdische Gemeinde Kairos besteht. Die meisten von ihnen sind in ihren Achtzigern. Sie leben von Almosen und den Mieteinnahmen aus Grundstücken, die seit Generationen im Besitz der Gemeinde sind. Aber so klein ihre Zahl auch sei, sagt Haroun, die Gemeinde ist stolz auf ihr Land und unterstützt wie viele Ägypter das Bemühen der Armee, Mursis Muslimbrüder niederzuringen.

Die neuesten Unruhen in Ägypten begannen vor mehr als einem Monat: Massenproteste auf dem Tahrir-Platz veranlassten die Armee, Mursi, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens, zu entmachten und eine neue Regierung einzusetzen. Die Muslimbruderschaft verurteilte die Aktion als Putsch. Kämpfe flammten auf zwischen ihren Anhängern und dem Militär, bei denen mehr als 1000 Ägypter gewalttätig starben.

verwandtschaft Jahrtausendelang haben Juden in Ägypten gelebt. Zur Zeit der israelischen Staatsgründung 1948 lebten rund 75.000 Juden in Ägypten. Die meisten verließen das Land in den darauffolgenden Jahrzehnten. Diejenigen, die geblieben sind, hätten kein Problem damit, Ägypten ihre Heimat zu nennen, so Haroun. Obwohl sie in mehreren europäischen Ländern Verwandtschaft hat, schwört sie, Ägypten »niemals, niemals, niemals« zu verlassen.

»Ich bin sehr stolz darauf, hier zu sein«, sagt sie. »Ich möchte alles tun, was ich kann, um zu helfen. Wir sind ein starkes Volk. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die Menschen auf die Straße gehen. Statt über Fußball zu reden, sprechen sie über Politik. Das Bewusstsein, wie wichtig unser Land ist, ist gewachsen.«

militärhilfe Vergangene Woche berichtete der amerikanische Fernsehsender CNN, das Weiße Haus werde einen Teil der Militärhilfe für Ägypten zurückbehalten, um gegen die gewalttätige Unterdrückung der Mursi-Anhänger zu protestieren. Haroun hingegen sieht in der Machtübernahme der Armee eine begrüßenswerte Entwicklung im »Kampf gegen den Terrorismus«.

Laut Haroun hat die jüdische Gemeinde bislang keinen Antisemitismus als Folge der Kämpfe erlebt – wahrscheinlich, meint sie, weil die Gemeinde so klein ist. Unter der Mursi-Regierung war das anders. Gleich nach ihrem Antritt wurde beschlossen, die monatliche Unterstützung von umgerechnet rund 750 Euro, die Ägyptens Staat der jüdischen Gemeinde seit mehr als 20 Jahren gewährte, einzustellen.

»So wie die Regierung Mursi die Dinge anging, möchte ich behaupten, dass es sich um eine faschistische Bewegung handelt«, sagt Haroun. »Ich hoffe, wir werden in Ägypten eine neue Epoche erleben, in der alle gleich sind, egal welche politischen Überzeugungen sie haben. Ich sehe mit Zuversicht in die Zukunft.«

Zukunft Auch Levana Zamir, die in Tel Aviv lebt und deren Familie aus Kairo ausgewiesen wurde, als sie zwölf Jahre alt war, glaubt an eine tolerantere Zukunft für Ägypten. Zamir kann sich an eine Zeit erinnern, in der das Land nach Weltoffenheit strebte.
»Ich bin sehr stolz auf die Ägypter, weil sie ein säkulares und kosmopolitisches Land wollen, so wie es früher war«, sagt Zamir, Präsidentin der Vereinigung Ägyptischer Juden in Israel. »Sie brauchen jemanden wie (den ehemaligen Präsidenten) Sadat, der die arabische Welt öffnen wollte.«

Auch wenn die beiläufigen antisemitischen Sprüche, die sie ständig zu hören bekommt, sie verletzen, glaubt Magda Haroun, der Antisemitismus der Ägypter rühre daher, dass sie nichts über das Judentum wüssten. »Das sind alles nur Worte, denen keine Taten folgen«, sagt sie. »Das antisemitische Gerede ist einfach nur Unwissenheit. Die Ägypter sind voller Liebe. Sie lieben einander. Es ist die Unwissenheit, die sie dazu treibt, zu hassen und Kirchen anzuzünden.«

rosch haschana Aufgrund der Unruhen im Land sieht sich die Gemeinde nicht in der Lage, kommende Woche zusammen Rosch Haschana zu feiern. In den vergangenen Jahren hatte die Gemeinde am Neujahrstag ausländische Würdenträger und nichtjüdische Ägypter zu einem festlichen Mahl eingeladen. Aufgrund der von der Armee verhängten Ausgangssperre können sie sich dieses Jahr nicht in der Synagoge versammeln. Ein Rabbiner aus dem Ausland, der zu den Feiertagen nach Ägypten kommen sollte, hat die Reise abgesagt.

Dennoch steht die Gemeinde aufseiten der Armee. Dazu aufgerufen, der Regierung in der Zeit der Unruhen Geld zu spenden, kratzten die 14 jüdischen Frauen so viel zusammen, wie sie konnten. Haroun erinnert sich, wie sie die Frauen gefragt hat: »›Wie ihr wisst, haben wir kein Geld. Aber seid ihr einverstanden, dass wir im Namen der ägyptischen jüdischen Gemeinde einen kleinen Betrag spenden?‹ Sie antworteten: ›Ja, natürlich. Noch sind wir nicht tot.‹«

Vatikan

Papst Leo würdigt rumänischen Kardinal und Retter Tausender Juden

Iuliu Hossu könnte ein »Gerechter unter den Völkern« werden

 09.06.2025

Antisemitismus

Rabbiner fordern Schutz nach Angriff bei Paris

Jüdisches Leben müsse endlich sicher möglich sein, so Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt

 09.06.2025

Neue Studie aus den USA

Israelhass auf dem Campus: »weniger sichtbar, radikaler, gefährlicher«

Eine neue Studie über anti-israelischen Aktivismus an US-Universitäten zeigt eine beängstigende Professionalität und Terrornähe. Aber es gibt auch Hoffnung

von Sophie Albers Ben Chamo  08.06.2025

Niederlande

Wer hat die Großeltern verraten?

Die digitale Nutzung eines Archivs zur Kollaboration mit den Nazis wurde zunächst wegen Datenschutz-Bedenken verhindert. Nun soll eine Gesetzesänderung die Öffnung ermöglichen

von Tobias Müller  08.06.2025

Aserbaidschan

Europäische Rabbiner treffen sich erstmals in muslimischem Land

Ein historischer Schritt: Die Konferenz Europäischer Rabbiner tagt 2025 erstmals in einem mehrheitlich muslimischen Land. In Aserbaidschan soll ein Zeichen für Dialog und Respekt gesetzt werden

von Hannah Krewer  06.06.2025

Krakau

»Das sind alles Linke«: Rabbiner soll Opfer des 7. Oktober »hassen«

Ein Mitglied des Europäischen Rabbinischen Zentrums stößt mit umstrittenen Aussagen bei seinen Kollegen auf Kritik

 06.06.2025

Meinung

Was man als Jude tun muss, um Donald Trump gut zu finden

Rassismus, Israel-Hass und antisemitisches Tourette-Syndrom. Wer US-Präsident Trump als Kämpfer gegen den Antisemitismus feiert, muss über allerlei hinwegsehen. Ein Resümee von Hannes Stein

von Hannes Stein  05.06.2025

Wien

Mit Courage gegen »Kellernazis«

Sie treten dem wachsenden Rechtsextremismus entgegen und wehren sich gegen Judenhass an Universitäten. Die Stadt ehrt sie nun dafür mit einem Preis. Zu Besuch bei den Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH)

von Tobias Kühn  01.06.2025

Großbritannien

Pracht der Anerkennung

Die Fotografin Hélène Binet hat jüdische Landhäuser fotografiert. In einem Schloss werden die Bilder nun ausgestellt. Zu Besuch in Waddesdon Manor

von Sabine Schereck  01.06.2025