Grossbritannien

Nächstenliebe statt Mobbing

Oberrabbiner Ephraim Mirvis Foto: imago/ZUMA Press

Ephraim Mirvis, der Oberrabbiner von Großbritannien und dem Commonwealth, hat einen Bericht verabschiedet, den manche für eine Revolution halten. In dem 34 Seiten langen Papier Das Wohl von LGBTQ-Schülern. Ein Ratgeber für ortho­doxe jüdische Schulen, das Mirvis in Zusammenarbeit mit der Organisation Keshet UK herausgegeben hat, ruft der Rabbiner orthodoxe Schulen auf, sich um homo-, bi- und transsexuelle Schüler zu kümmern und einzugreifen, wenn sie gemobbt werden.

Die Richtlinien, die sich direkt an die orthodoxe Gemeinschaft richten, argumentieren unmittelbar mit der Tora. So zitiert Mirvis: »Ihr sollt nichts Falsches gegeneinander tun« (3. Buch Mose 25,17) und verweist dann auf die dazugehörige Mischna, die darauf hinweist, dass mit »Falschem« auch Worte gemeint sein können (Baba Mezia 4,10).

Mirvis argumentiert: »Laut der Gemara gleicht eine Person, die eine andere in der Öffentlichkeit beschämt, einer, die Blut vergießt. Und die Mischna in Awot 3,11 lehrt uns, dass derjenige, der so etwas tut, seinen Platz in der kommenden Welt verspielt.«

Die Richtlinien wenden sich direkt an die orthodoxe Gemeinde.

In seiner Einführung nennt der Oberrabbiner auch jene biblische Passage, die oft als Anweisung gegen Homosexualität interpretiert wird. So schreibt er: »Wir sind uns natürlich der Verbote der Tora, wie 3. Buch Mose 18,22, bewusst, doch ist es eine große Gotteslästerung, wenn homo-, bi- und transphobes Mobbing mit jüdischen Texten gerechtfertigt wird. Stattdessen sollte nach dem 3. Buch Mose 19,18 die Mizwa der Nächstenliebe gelten«, denn Rabbi Akiva habe sie als das wichtigste Prinzip der Tora verstanden.

Mirvis zitiert auch aus Statistiken der britischen LGBTQ-Gemeinschaft: Fast die Hälfte aller homo-, bi- und transsexuellen Jugendlichen werde in der Schule gemobbt, schreibt Mirvis. Die Schulen hätten daher die Pflicht, ein Umfeld zu schaffen, das Schülern das Gefühl vermittele, dass man sich um ihr Wohl kümmert.

gleichberechtigung Viele in der jü­dischen Gemeinschaft empfinden Mirvis’ Richtlinien als einen wichtigen Schritt hin zur Gleichberechtigung – und das in einer Zeit, da jüdische Schulen in Großbritannien zunehmend mit den Gleichberechtigungsgesetzen des Landes in Konflikt geraten.

Der Bericht des Oberrabbiners enthält daher neben Zitaten aus Tora und Talmud auch genaue Angaben zu den rechtlichen Verpflichtungen von Schulen. Erst vor einem Jahr musste Rabbiner Joseph Dweck, der zum sefardischen Beit Din in Großbritannien gehörte, massive Kritik hinnehmen, weil er sich »gegen die Hexenjagd auf Schwule« ausgesprochen und Feminismus und Homosexualität eine »fantastische Gesellschaftsentwicklung« genannt hatte. Die Intervention aus dem Amt des britischen Oberrabbiners kam angesichts dessen sehr überraschend.

Der heute 32-jährige Arzt Robert Freudenthal, der selbst schwul ist und in einer orthodoxen Gemeinde aufwuchs, begrüßt die Richtlinien. »Das Papier zeigt, dass die orthodoxe Gemeinschaft bereit ist, die ersten Schritte zu unternehmen, auch wenn es mir nicht weit genug geht«, sagt er.
So bemängelt Freudenthal, dass es das Dokument nicht schaffe, LGBTQ-Identitäten zu feiern und anzuordnen, dass homo-, bi- und transsexuelle Jugendliche in allen Lebensbereichen vollkommen akzeptiert werden sollten. »Das Dokument erkennt auch nicht an, dass viele Homosexualität als abstoßend empfinden, wenn sie 3. Buch Mose 18 lesen, wo sie als Gräuel bezeichnet wird.«

Dennoch hält Freudenthal es für sehr hilfreich, jüdischen Lehrern die Richtlinien ans Herz zu legen. Dies mache es möglich, homo-, bi- oder transsexuell und trotzdem jüdisch zu sein.

Er habe in seiner Jugend selbst erlebt, wie sich andere ihm gegenüber homophob verhielten, erzählt Freudenthal. Bei ihm war es vor allem der eigene Rabbiner.

neigungen Auch eine Gruppe wichtiger ultraorthodoxer Rabbiner des Landes schloss sich Ephraim Mirvis an. Sie erklärten, dass kein Kind Mobbing erfahren dürfe, »egal, welche Neigungen es hat«. Allerdings warnten sie gleichzeitig auch davor, dass niemand vom »Irrglauben über nicht-heterosexuelle Neigungen getäuscht werden« solle.

Die stärkste Kritik an Oberrabbiner Mirvis kam aus Israel.

Die stärkste Kritik an Oberrabbiner Mirvis kam aus Israel. Der Leiter des Beit Din der Eda Haredit in Jerusalem, Rabbiner Moshe Sternbuch, erklärte: »Es verdient keine Ehre, wenn der Name G’ttes entehrt wird.« Sternbuch sprach sich ausdrücklich dagegen aus, Schüler in orthodoxen Erziehungseinrichtungen zu belassen, wenn sie sich »in verwerflicher Art und Weise gegen das Gesetz der Tora und die Fundamente unserer Religion stellen«.

Reaktionen dieser Art überraschen Dalia Fleming, die Geschäftsführerin von Keshet UK, nicht. Vielmehr zeigten sie, wie wichtig die Arbeit ihrer Organisation ist, sagt sie. Mirvis’ Richtlinien gäben vielen Menschen Hoffnung, weil sie die Möglichkeit eines Gesprächs eröffnen. »Das gab es vorher nicht.«

Laut einem Sprecher des Oberrabbiners haben die Richtlinien inzwischen dazu geführt, dass etliche Lehrer nun besondere Seminare besuchen, die sich diesem Thema widmen.

Eine lesbische Frau, die nicht möchte, dass ihr Name in der Zeitung steht, sagte der Jüdischen Allgemeinen, dass es für sie in ihrer Jugend schwer war, in einer orthodoxen Familie aufzuwachsen. »Homosexualität gehörte nicht zu dem, wie sich orthodoxe Eltern die Zukunft ihres Kindes vorstellten.«

Als lesbische Mutter mit einem Kind in einer jüdischen Schule falle es ihr auch heute noch schwer, ihrer »ganzen Identität gegenüber offen zu sein«, sagt sie. Als sie die neuen Richtlinien las, sei sie sehr berührt gewesen. »Es fühlte sich an wie ein Schritt aus der Ausgrenzung, Verschwiegenheit und Schande, in der ich persönlich aufwuchs.«

Aber so wie Robert Freudenthal meint auch sie, dass die Richtlinien weiterentwickelt werden müssen. »Sie sind nur ein Anfang. Sie machen das Thema sichtbar und eröffnen einen Dialog.«

Doch das in sehr vielen Gemeinden weltweit. Da Ephraim Mirvis auch Oberrabbiner des Commonwealth ist, gelten die Richtlinien nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Australien, Südafrika, Neuseeland und Kanada.

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