Lesen

Momentaufnahmen aus dem Nachbarland

Journalist und Buchautor: Karl Pfeifer (88) Foto: Stefan Streicher

Lesen

Momentaufnahmen aus dem Nachbarland

In seinem neuen Buch erzählt der österreichische Journalist Karl Pfeifer von der Faszination für Ungarn

von Oliver Noffke  05.12.2016 19:00 Uhr

Die Bar »Laidak« am Boddinplatz in Neukölln. Draußen ist der Herbst kalt. Drinnen diskutieren junge Leute um die 30 im Schein von Biedermeier-Stehlampen über das politische Budapest. Hier und da bröckelt der Putz von den Wänden. Randvolle Bücherregale hängen im ganzen Raum. Hipper geht es selbst in Berlin nicht.

Ein älterer Herr mit Lausbubenlächeln nimmt auf einem Podest Platz, rückt sein Mikrofon zurecht und hebt ein kleines Buch hoch. Immer wieder Ungarn heißt es und ist randvoll mit persönlichen Erlebnissen und journalistischen Beobachtungen, die mehr als sieben Jahrzehnte aus dem Leben von Karl Pfeifer umfassen. Eingeladen hat die Amadeu Antonio Stiftung im Rahmen ihrer Aktionswochen gegen Antisemitismus.

Biografie Geboren wurde Pfeifer 1928 in Baden bei Wien. 1938 kam er zum ersten Mal nach Ungarn, als seine Eltern vor dem Nationalsozialismus flohen. 1942 gelang ihm die Flucht nach Palästina, wo er nach einer Ausbildung im Kibbuz im Unabhängigkeitskrieg kämpfte. 1955, vier Jahre nach seiner Rückkehr nach Österreich, durfte Pfeifer erstmals wieder Ungarn besuchen, was er in der Folge regelmäßig tat. Wenn er denn ein Visum erhielt. Mehrmals wurde er des Landes verwiesen und mit Einreisesperren belegt.

In Immer wieder Ungarn beschreibt er zu allererst sein persönliches Verhältnis zu dem Land. Angesichts der antisemitischen Vorfälle, die Pfeifer aufführt, und in Anbetracht der aktuellen politischen Lage erhält der Titel jedoch eine weitere Dimension. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Warum eigentlich immer wieder Ungarn?

Nachdem Pfeifer einige Passagen aus seinem Buch vorgelesen hat, leitet er in eine Diskussion über. Was denkt das Publikum, was will es von ihm wissen? Es dauert nicht lange, und es entbrennt eine spannende Diskussion über den aktuellen Kurs der Regierung Viktor Orbáns. Gefragt nach den Gründen für den Hass, der asylsuchenden Syrern in Ungarn derzeit entgegenschlägt, sagt Pfeifer: »Ich würde nicht sagen, dass Ungarn araberfeindlich ist.« Wenn ein Araber 250.000 oder 300.000 Euro auf der Bank hinterlegte, mehrere Jahre auf die Zinsen verzichtete, dann könne er durch den ungarischen Staat zum EU-Bürger gemacht werden. »Man hat dort nur etwas gegen arme Muslime.«

Das sei ein Unterschied zur Situation der Juden in Ungarn. »Ich war nie der Journalist aus Österreich, sondern immer der ›jüdische Journalist‹, obwohl ich die Sprache beherrsche und jahrelang im Land gelebt habe.« Durch dieses Herausstellen der jüdischen Herkunft würden aus Mitbürgern Fremde gemacht, egal welche gesellschaftliche Stellung sie hätten.

Anfang November scheiterte Orbán im ungarischen Parlament damit, eine Flüchtlingsquote einzuführen. Doch Pfeifer warnt: Ungarn sei derzeit kein demokratischer Staat. »Bei den nächsten Wahlen 2018 kann Orbán nicht mit friedlichen Mitteln abgewählt werden«, sagt er. Das offenbare auch ein Versagen der westeuropäischen Staaten. Sie hätten den Rechtsruck in ihrer Mitte zu lange toleriert.

GEschichten Pfeifers Buch ist kein trockener Almanach und keine lückenlose Chronik, beides will es auch gar nicht sein. Seine große Qualität entfaltet Immer wieder Ungarn durch die vielen kleinen und persönlichen Geschichten, die das politische Geschehen mit dem Alltag der Bürger verbinden. Ergänzt werden diese Momentaufnahmen durch eine Auswahl journalistischer Artikel des Autors. Auf erschreckende Berichte folgen oft amüsante Anekdoten oder Hoffnungsfrohes. Aus heutiger Sicht hochinteressant ist etwa ein kurzes Interview mit dem Historiker Miklós Szabó aus dem Jahr 1988, der die zarten demokratischen Entwicklungen dieser Zeit kommentiert. An anderer Stelle analysiert er die Zusammenhänge zwischen der Schändung von Synagogen und der mörderischen Diskriminierung ungarischer Roma.

Nach der Lesung signiert Pfeifer einige Bücher, dann verabschiedet er sich. »Ich möchte noch mit ein paar Freunden reden«, sagt er und setzt sich an einen Tisch, umringt von Neuköllner Hipstern.

Karl Pfeifer: »Immer wieder Ungarn«. Edition Critic, Berlin 2016, 155 S., 15 €

Krieg in Israel

Rabbiner: Unterstützung für gestrandete Israelis in Europa

Sie können momentan nicht nach Israel zurück. Jüdische Gemeinden in Europa sind gebeten, sie mit Unterkünften und anderem zu unterstützen. In Gemeinden herrscht unterdessen große Besorgnis, auch wegen der Sicherheit

von Leticia Witte  16.06.2025

Nachruf

Der Lippenstiftverkäufer

Leonard Lauder, der aus dem von seinen Eltern gegründeten Kosmetikunternehmen Estée Lauder einen Weltkonzern machte, ist im Alter von 92 Jahren gestorben

von Michael Thaidigsmann  16.06.2025

USA

Farlir nur nit dein Hofenung

Wie ein schwarzer Kantor in den 1920ern New Yorks Juden verzauberte und sogar durch Europa tourte. Die unglaubliche Geschichte des Thomas LaRue, dessen Stimme erstmals wieder zu hören ist

von Nicole Dreyfus  15.06.2025

Nationaler Sicherheitsrat

Offizielle Warnungen für Israelis und Juden im Ausland

Wachsamkeit, Kooperation und Zurückhaltung. Der israelische Nationale Sicherheitsrat hat Warnhinweise für Israelis und Juden im Ausland veröffentlicht

 13.06.2025

Zürich

Israelhasser wollten Zürich zum Stillstand bringen

Am Donnerstagabend wollten »propalästinensische« Demonstranten durch die Zürcher Innenstadt ziehen

von Nicole Dreyfus  12.06.2025 Aktualisiert

Bosnien und Herzegowina

Goldschmidt: Boykott von Rabbinertreffen ist »eine Schande«

Die Europäische Rabbinerkonferenz kann nicht in Sarajevo tagen. Grund ist der Boykottaufruf eines Ministers. Der CER-Präsident fordert nun Konsequenzen

von Michael Thaidigsmann  12.06.2025

New York

Weinstein in neuem Prozess wieder verurteilt

Der Schuldspruch gegen den ehemaligen Filmmogul im Jahr 2020 galt als Meilenstein – bis er 2024 überraschend kassiert wurde. Nun hat erneut eine Jury geurteilt, aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

 12.06.2025

Belgien

Israelfeindliche Aktivisten stellen Hamas-Terror nach

Bei einem »Widerstandsfestival« in Brüssel wurde der Terror mit einem Theaterstück glorifiziert, es gab Hamas-Dreiecke; und Wassermelonen-Mandalas für Kinder

von Nils Kottmann  09.06.2025

Vatikan

Papst Leo würdigt rumänischen Kardinal und Retter Tausender Juden

Iuliu Hossu könnte ein »Gerechter unter den Völkern« werden

 09.06.2025