Zeitzeugin

Meisterin der Chromatografie

Eva Smolková-Keulemansová (96) hat ihr Smartphone in der Westentasche immer griffbereit: »Die Studenten halten mich jung.« Foto: Kilian Kirchgeßner

Die Sache mit dem Rasenmäher muss er wohl allein hinkriegen, dafür fährt Eva Smolková-Keulemansová nicht extra raus aufs Land. Sie sitzt in Prag in einer geräumigen Altbauwohnung im eleganten Viertel Vinohrady und nimmt per Telefon die Meldungen ihres Partners entgegen, der am Morgen zu dem Grundstück irgendwo auf dem böhmischen Land aufgebrochen ist. »Er muss da an dem Rasenmäher etwas schweißen, das Ding ist schon wieder kaputtgegangen«, sagt sie und winkt ab.

Dass sie mit ihren 96 Jahren hier sitzt und sich um Gartengeräte kümmert und ihr nur wenige Jahre jüngerer Partner noch mit dem Schweißgerät herumhantiert, was sollte daran verwunderlich sein – vor allem nach so einem Jahrhundertleben, in dem sie sich das Wundern ohnehin schon längst abgewöhnt hat?

Als Chemieprofessorin erarbeitete sie sich weltweit einen herausragenden Ruf

Draußen vor dem Fenster zieht das Prager Leben vorbei, und Eva Smolková-Keulemansová hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Der Platz neben dem üppigen Blumenstrauß ist ihr Stammplatz. Die Blumen hat ihr eine Bekannte mitgebracht, die manchmal im Haushalt hilft, und jetzt schmücken sie das Wohnzimmer von Smolková-Keulemansová. Ihr Smartphone hat sie in der Westentasche immer griffbereit, in der Ecke steht ein Computer mitsamt Drucker. »Die Studenten halten mich jung«, betont sie. »Ansonsten wäre ich schon längst nicht mehr da.«

Als sie 1968 von Paris nach Prag zurückkehrte, hielt man sie für verrückt.

Berühmt geworden ist Eva Smolková-Keulemansová in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. »First Lady of Chromatography« wurde sie genannt. Es schwang reichlich Hochachtung mit in dieser Bezeichnung. Als Chemieprofessorin erarbeitete sie sich weltweit einen herausragenden Ruf – die Wissenschaftlerin rollte hinter dem Eisernen Vorhang an der Prager Karls-Universität weitgehend in Eigenregie ein Fachgebiet auf, das damals noch neu war.

Mit Forschern aus ganz Europa stand Eva Smolková-Keulemansová im Austausch, regelmäßig war sie auch in Israel, am Weizmann-Institut in Rehovot. Auf Konferenzen trug sie ihre Ergebnisse vor und sog auf, was die Kollegen alles herausgefunden hatten. »Ich wollte eigentlich Medizin studieren, so wie jeder, der das KZ überlebt hatte«, erzählt sie. Doch die Chemie faszinierte sie schließlich stärker, und mit einer Familie sei das Fach auch besser zu vereinbaren, so ihre Überlegungen damals.

Als sie geboren wurde, hieß sie noch Eva Weil. 1927 kam sie in Prag zur Welt, ihre Eltern Oskar und Alice waren Juden, die aber nur an den Feiertagen in die Synagoge gingen. Es war eine Kindheit in einfachen Verhältnissen: Die Familienwohnung hatte nur ein Zimmer. Aber der Platz müsse auch für ein Klavier ausreichen, befand die Mutter. Sie war es, die Eva schon früh in Konzerte und ins Theater mitnahm. Es war das erste Leben von Eva, das am 6. März 1943 abrupt endete, als die Familie nach Theresienstadt deportiert wurde.

Das zweite Leben begann nach der Befreiung. 36 Kilogramm wog die junge Frau da noch. Sie war in einem elenden Zustand, der Körper ausgezehrt von Gelbsucht, Typhus und Tuberkulose. Sie wurde nach Schweden gebracht, um sich auszukurieren, und gerade als dort eine Familie anbot, sie zu adoptieren, bekam sie die Nachricht, dass daheim in der Tschechoslowakei eine Tante und ihre Großmutter die Schoa überlebt haben. Sie zögerte nicht, packte ihre Tasche und fuhr zurück in die Heimat.

Nach der Schoa konnte sie lange nicht über ihr Überleben sprechen

Als sie nach dem Krieg zu Hause in Prag ihr Abitur nachholte, war Chemie das einzige Fach, von dem sie noch nie etwas gehört hatte. Als ihre Mitschüler es in der Schule gelernt hatten, war sie im KZ. Also besorgte sie sich zwei Bücher, eines über organische und eines über anorganische Chemie, das weiß sie noch heute. »Ich las es und hatte das Gefühl, alles zu können«, erinnert sie sich. Und so schrieb sie sich schließlich für ein Chemiestudium ein, getrieben von einem unstillbaren Hunger. Mit einem einzigen Satz tut sie das jetzt im Rückblick ab – mit einem Satz aber, der als Titel über ihrem ganzen Leben stehen könnte: »Ich wollte zeigen«, sagt sie, »was man noch alles machen kann, wenn man überlebt hat.«

Über dieses Überleben schwieg sie nach dem Krieg eisern. Es war viele Jahrzehnte später ihre Enkelin, die sie zum Reden brachte. 14, 15 Jahre alt war sie. Für ein Schulprojekt sollte sie Zeitzeugen befragen. Sie wandte sich an ihre Großmutter, obwohl sie befürchtete, dass sie ablehnen würde. Aber Eva Smolková-Keulemansová kam ins Grübeln. »Die Jugendlichen in der Klasse waren ungefähr so alt wie ich, als ich nach Theresienstadt deportiert wurde«, sagt sie – und machte schließlich mit. »Und weil ich Hochschullehrerin bin«, schiebt sie nach, »kann ich da nicht nur hingehen und quatschen, ich muss mich auch vorbereiten und Unterlagen mitbringen.«

Also erzählte sie darüber, wie die Konzentrationslager ihre Familie auseinanderrissen, erst Theresienstadt, dann Auschwitz, dann Neugraben, dann Bergen-Belsen. Nur von Auschwitz berichtete sie nicht – so grauenhaft war das, dass sie darüber nicht sprechen könne. Sie erzählte von ermordeten Familienangehörigen, von dem Horror der Deportation, vom Lagerleben, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Lehrerin ihrer Enkelin im Hintergrund saß und weinte.

Dieses erste Erzählen wirkte auf Eva Smolková-Keulemansová wie ein Befreiungsschlag. Fortan berichtete sie immer wieder. Sie erzählte ihre Geschichte für die tschechische Initiative »Gedächtnis der Nation«, die Zeitzeugenberichte aus allen Epochen des 20. Jahrhunderts sammelt und archiviert. Sie schrieb einen Beitrag für die »Theresienstädter Initiative« und fuhr schließlich sogar nach Neugraben.

Es war wie eine Reise des Trotzes: Mit ihrer Tochter und ihrem Sohn war sie dort, mit einer Enkelin und einer Urenkelin. Sie hatte Bilder aus ihrem Leben mitgebracht, und bis heute freut sie sich über die Reaktion eines Jugendlichen, der ihr Hochzeitsfoto anschaute und dann der alten Dame vorn auf der Bühne spontan zurief: »Mensch, was waren Sie schön!«

An der Prager Karls-Universität sind die Naturwissenschaften auf einem eigenen Campus untergebracht. Er ist nahe der Moldau gelegen, ein Ensemble von altehrwürdigen Gebäuden aus der Epoche, als der Wissenschaft mit Kathedralen gehuldigt wurde. Hier bezog Eva Smolková-Keulemansová ihr Büro und ihre Labore.

In der Chromatografie, ihrem Fachgebiet, werden die Bestandteile von Substanzen wie etwa Gasen analysiert. In einem Labor werden sie in einem komplexen System aus Röhrchen und Kolben getrennt und farblich sichtbar gemacht. Die Technik war zwar schon länger bekannt, aber in der Anwendung machte sie just in der Phase große Fortschritte, als Eva Smolková-Keulemansová ihre Karriere begann. Die junge Chemikerin war von Anfang an begeistert und stürzte sich ganz auf die neuartige Technik.

Längst herrschten die Kommunisten im Land, aber ihre Forschung war gut ausgestattet

Längst herrschten die Kommunisten im Land, aber ihre Forschung war gut ausgestattet: Einen eigenen Glasbläser zählte sie zu ihrem Team, mit dem sie an immer neuen Apparaturen tüftelte, immer komplexeren gläsernen Gefäßen, immer weiter verfeinerten Instrumenten für ihre Chromatografie.

Sie reiste als Botschafterin der Tschechoslowakei durch die Welt, auf wissenschaftliche Konferenzen, zum kollegialen Austausch. Und während sie einmal für ein ganzes Jahr in die Niederlande an ein dortiges Forschungsinstitut ging, lernte sie ihren späteren Mann kennen, einen niederländischen Professoren-Kollegen. Er wurde ihr dritter Ehemann; den ersten hatte sie überlebt, vom zweiten sich scheiden lassen, und jetzt also er.

Ihre Fachzeitschriften liest die 96-Jährige auch heute noch.

Sie waren gerade in Paris als verliebte Touristen, schlenderten über die Champs-Élysées, das weiß sie noch, als aus Prag furchtbare Nachrichten kamen. Es war das Jahr 1968, und die Warschauer-Pakt-Staaten marschierten mit Panzern in die Tschechoslowakei ein, um den Prager Frühling niederzuwälzen, jene hoffnungsstiftende Freiheitsbewegung. Eva Smolková-Keulemansová entschied sich, trotzdem zurückzukehren.

»Alle haben mich für verrückt erklärt. Jeder hatte nach Möglichkeiten und Wegen gesucht, um auszureisen. Und ich war schon draußen, aber kam wieder zurück«, sagt sie. Immerhin: Für Forschungsprojekte und Konferenzen ließ man sie ausreisen, und als ein paar Jahre später ihr niederländischer Ehemann in Pension ging – er war ein ganzes Stück älter als sie –, siedelte auch er in die kommunistische Tschechoslowakei über, um bei seiner Frau zu sein.

Die indes drang immer tiefer in die Geheimnisse der Chromatografie ein, sie verbesserte die Technik immer weiter. Mit drei Nobelpreisträgern hatte sie guten Kontakt im Laufe ihrer Karriere, erzählt sie: mit Jaroslav Heyrovský, Archer J.P. Martin und Jean-Marie Lehn. Als weit später die politische Wende kam, fing für sie wieder ein neues Leben an, zum inzwischen dritten Mal: Sie ging in Pension.

Noch jahrelang hielt sie Vorlesungen für die Studenten

»Das heißt aber nicht, dass ich nichts mehr gemacht hätte«, sagt sie und schüttelt energisch den Kopf: Ihre Fachzeitschriften las sie weiter – und tut es bis heute –, mit ihren Kollegen tauschte sie sich aus, und in der Fakultät war sie ohnehin unverzichtbar. Noch jahrelang hielt sie Vorlesungen für die Studenten. Nach und nach verließ sie das Gebiet der aktuellen Forschung und konzentrierte sich auf die Überblicks- und Grundlagenveranstaltungen, aber im Dienst der Chemie stand sie immer noch, die First Lady of Chromatography.

Als die Opfer der NS-Zeit später finanzielle Entschädigungen bekamen, wusste Eva Smolková-Keulemansová, wofür sie das Geld ausgeben würde: Sie nahm ihre Enkelin mit auf eine Reise nach Israel, zwei Wochen waren die beiden Frauen dort unterwegs. Für die Wissenschaftlerin war es eine Reise zu ihren Kollegen, mit denen sie lang und oft zusammengearbeitet hatte; für die Enkelin war es eine Entdeckungstour entlang ihrer jüdischen Wurzeln.

Das Telefon klingelt, Eva Smolková-Keulemansová fischt ihr Smartphone aus der Westentasche. Sie murmelt eine kurze Entschuldigung, dann geht sie dran. Hört kurz zu, dann strahlt sie. Ihr Partner – mit dem sie seit dem Tod ihres niederländischen Ehemanns inzwischen auch schon 40 Jahre lang zusammen ist, wie sie beiläufig erwähnt – hat es geschafft: Der Rasenmäher läuft wieder.

Jom Haschoa

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