Grossbritannien

Labour? No thanks!

Vor dem Supermarkt in Golders Green steht ein Klapptisch mit roter Decke. Daneben weht eine Werbefahne mit den Worten »Labour Finchley und Golders Green«. Etwa zehn Genossen der britischen Labour Party verteilen Flugblätter. In ihrer Mitte steht – Anzug, Sonnenbrille, kleine schwarze Kippa – Jeremy Newmark (44). Noch vor sieben Jahren war Labour in diesem Wahlbezirk dominant. Doch seit 2010 bläst in dieser Vorortgegend mit Reihenhäusern und gepflegten Vorgärten der blaue Wind der konservativen Partei, vertreten durch Mike Freer (57). Die Nationalwahl am 8. Juni ist seine dritte hier.

Sicherheit Bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 37,1 Prozent ist es in Golders Green ausschlaggebend, eine Politik zu betreiben, die auf jüdische Bürger hört. Freer hat sich darin als Nichtjude passabel behauptet. »Ich habe mich für jüdische Schulen, für die Schechita und gegen Antisemitismus eingesetzt. Ich habe die antiisraelische BDS-Kampagne angeprangert und dafür gesorgt, dass der jüdische Sicherheitsdienst höhere Zuschüsse bekommt.«

Doch so lobenswert es auch ist, es ist nicht dieses Engagement, das jüdische Wähler für Freer stimmen lässt. Es ist vielmehr ihr Misstrauen gegenüber Labours Parteichef Jeremy Corbyn.

Elisa, die gerade am Supermarkt vorbeiläuft und ihren Familiennamen nicht nennen möchte, sagt, sie sei eigentlich Unterstützerin der Arbeiterpartei. Doch es gebe ein Problem: »Corbyn ist ein Antisemit, er verfolgt eine anti-israelische Linie. Außerdem taugt er nicht als Parteichef.« Ihr Fazit: Labour zu wählen, ist derzeit undenkbar.

Dabei ist Jeremy Newmark, der Labour-Kandidat des Wahlbezirks – er war Sprecher des einstigen Oberrabbiners Jonathan Sacks –, ein beständiger Kritiker Corbyns, besonders in seiner Rolle als Vorsitzender der jüdischen Arbeitervereinigung (JLM), die sich lautstark gegen antisemitische Vorfälle unter Genossen wehrte und Corbyn immer wieder zur Verantwortung zog.

Elisa hält zwar durchaus etwas von Newmark, doch es gehe eben darum, ein klares Zeichen zu setzen. Sie könne deshalb nicht einfach so Labour wählen.

Wo immer man im Bezirk auch fragt, von Juden kommen die gleichen Antworten. Nach einer Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung Jewish Chronicle (JC) würden nur 8,5 Prozent aller jüdischen Wähler Labour wählen – so wenige wie noch nie.

In einem Café in Golders Green bewundern zwei erfahrene Kaffeehausphilosophen mit Halbglatze, Sam (80) und Albert (65), beide jüdisch-marokkanischer Herkunft, die Tories und schwärmen von Theresa May: »Sie hat Courage! Sie kann das Land lenken«, sagt Albert.

Die pensionierte Lehrerin Pauline Levis (63) hingegen glaubt ganz und gar nicht, dass May dies kann. »Viele meiner Freunde, davon zahlreiche mit jüdischem Flüchtlingshintergrund, können May nicht ausstehen, weil sie die Aufnahme von 3000 Kinderflüchtlingen ablehnte. Mike Freer sollte nicht so tun, als vertrete er unsere Interessen. Er hat persönlich gegen die Einreise der Kinder gestimmt.« Hinzu kämen Kürzungen im Sozialbereich, die vielen Menschen das Leben erschwerten. Unter Nichtjuden sind seit der jüngsten Terrorattacke auch die Kürzungen im Sicherheitsbudget ein großes Thema. Jüdische Gemeinden betreffen sie weniger, denn hier stehen mehr Polizisten als je zuvor zur Verfügung – zusammen mit eigenen Sicherheitsdiensten.

Auch Levis gesteht, dass Corbyns Haltung gegenüber Juden sie enttäuscht, genauso wie seine »lauwarme Haltung zur EU« vor dem Referendum.

Brexit In Berkshire, 80 Kilometer westlich von London, ist der orthodoxe Rabbiner Zvi Solomons (49) wenig über den Brexit besorgt, solange Juden aus Europa weiterhin nach London reisen können. Den Brexit selbst findet er richtig, Großbritannien könne die Beziehungen zu den traditionellen Handelspartnern ja wieder aufbauen. Die konservative Partei stehe für Selbstverbesserung. Schon der mittelalterliche jüdische Gelehrte Maimonides sei überzeugt gewesen, es sei das größte Geschenk, Menschen zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Als Befürworter der Schechita und der Brit Mila seien die Konservativen zuverlässig und Israel gegenüber solide, meint Rabbi Solomons. Er ist nicht der einzige. Laut der JC-Umfrage wollen zwei Drittel aller jüdischen Wähler am 8. Juni konservativ wählen.

Im nordenglischen Bassetlaw glaubt der IT-Berater Leon Duveen weder an eine Zukunft von Labour noch der Konservativen. Zum zweiten Mal stellt sich der 61-Jährige hier als Kandidat der Liberalen zur Wahl. Er selbst ist jüdisch, doch in der Gegend gibt es herzlich wenige Juden. »Wir bekommen nicht mal einen Minjan zusammen«, bedauert er. Das sei ein bisschen wie seine Partei, deren Zahl der Sitze im Unterhaus in den letzten zwei Jahren von 57 auf neun gesunken ist.

Mit dem derzeitigen Labour-Abgeordneten von Bassetlaw, John Mann, kommt Duveen gut klar, denn dieser ist Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses gegen Antisemitismus und offener Gegner Corbyns. Allerdings sei John Mann für den Brexit. Und Duveen als Liberaldemokrat vertritt in einer der EU-feindlichsten Gegenden als Einziger die Brexitgegner. Duveen weiß zwar, dass er und seine Partei zumindest hier keine großen Chancen haben, aber sein Einsatz gelte der Zukunft, dem Aufbau einer liberal-demokratischen Alternative. Was Antisemiten betrifft, agierte seine Partei gezielter und besser als Labour. So wurde die Kandidatur des ehemaligen Abgeordneten David Ward nicht zugelassen, da er mit antisemitischen und antiisraelischen Kommentaren Aufsehen erregte.

Zukunft In Edinburgh glaubt auch der Religionswissenschaftler George Wilkes (49) an eine liberal-demokratische Zukunft. »Es war für mich einst ein Ausweg aus dem Thatcherverfängnis, ohne dabei in die Arme der Linken zu laufen.« Eine Position der gemäßigten Mitte, die ihm als Akademiker zusage. Laut JC-Umfrage stehen aber national nur 3,8 Prozent der jüdischen Wähler hinter der Partei.

Das jüdische Großbritannien schaut voller Spannung auf den Wahlabend. Die Zahl der stimmberechtigten jüdischen Briten ist niedrig. Doch mancherorts könnten sie das Zünglein an der Waage sein.

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