USA

Künstlerische Carepakete

Leeav Sofer glaubt an die heilende Kraft der Musik. Mitte Mai saß der Musiker, Sohn einer Kantorin und mit seiner Klezmer-Folk-Band »Mostly Kosher« gern gesehener Gast auf den Bimas von Synagogen in L.A., eingepfercht zwischen einem weißen Regal, einer schwarzen Stehlampe und einem braunen Klavier und leitete den Online-Workshop »Neighborhood Sing«.

»Ich hoffe, ihr seid hier, um eure musikalische Medizin zu schlucken«, begrüßte der 30-Jährige seine Zuschauer. An jenem Nachmittag vor Beginn der Corona-Pandemie sangen die Teilnehmer gemeinsam über Facebook und Zoom. Außerdem halfen sie Sofer mit Textzeilen für sein neues Lied.

urban voices project Sofer ist Mitbegründer und musikalischer Direktor des Urban Voices Project (UVP), ein Chor von und für Obdachlose in Skid Row. In jenem Stadtteil mitten in Los Angeles leben so viele Obdachlose wie nirgendwo sonst in den Vereinigten Staaten.

Als Sofer 23 war, arbeitete er an einer renommierten Musik- und Tanzhochschule in der Nähe von Skid Row. Man suchte damals nach Ideen für eine gemeinnützige Initiative. Sofer hob die Hand und fragte: »Wie wäre es mit Singen?«

Als Sofer 23 war, arbeitete er an einer renommierten Musik- und Tanzhochschule in der Nähe von Skid Row.

Gemeinsam mit einem Sozialarbeiter fand er genug Sänger, um auf der jährlichen Spendengala für das Ärztehaus in Skid Row aufzutreten. Das Konzert war ein großer Erfolg, alle Beteiligten wollten weitermachen, und der Urban Voices Project Choir war geboren. Geprobt wird noch heute in den Räumen der Klinik.

stabilität Sich künstlerisch ausdrücken zu können, gibt Menschen, die auf der Straße leben, Stabilität, Lebensfreude, Selbstachtung und das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören.

»Manche Leute waren schier verzweifelt«, beschreibt Chormitglied Tom Grode den Moment, als Sofer zu Beginn der Corona-Pandemie der Gruppe mitteilte, dass alle Präsenzveranstaltungen wie Proben, Workshops und Auftritte abgesagt werden. »Für viele ist der Chor eine Art Rettungsanker.«

Grode ist freischaffender Autor und lebte von 2014 bis 2018 selbst in Skid Row. Nachdem einige Investitionen misslangen, konnte er seine Wohnung in Los Angeles nicht mehr halten und zog in eine Obdachlosenunterkunft.

Online-Angebote Die Online-Angebote der Kunstprogramme werden in der sogenannten Skid Row Arts Alliance, einem losen Zusammenschluss von UVP und anderen Gruppen und Organisationen, koordiniert. Man tauscht Ideen aus und versucht, Probleme zu lösen.

Teilnehmer können auf der Internetseite Skid Row Arts TV Guide alle Angebote auf einen Blick erfassen. Doch schnell wurde deutlich, dass fehlender Internetzugang und mangelnde Erfahrung mit Technik für viele obdachlose Künstler schwer zu überwindende Hürden darstellen. Grode zum Beispiel hatte noch nie an einem Zoom-Meeting teilgenommen. »Vor Corona wusste ich gerade einmal, dass es das gibt, und jetzt verbringe ich den ganzen Tag auf Zoom«, sagt der 63-Jährige.

Doch nicht alle Künstler in Skid Row finden den Weg zu den Online-Workshops und -Kursen. Während der ersten Wochen kam nur die Hälfte der normalerweise um die 20 Stammgäste zur virtuellen Version des Nachbarschaftssingens. Für diese Leute sind die, wie sie es nennen, »künstlerischen Carepakete« der Arts Alliance gedacht.

isolation »Mithilfe der Carepakete können unsere Klienten immer noch Kunst machen; außerdem hilft es gegen die Isolation, weil sie sich auf diese Weise mit der Gemeinschaft verbunden fühlen«, sagt Sofer. Die gefütterten Umschläge enthalten Künstlerbedarf wie einen Skizzenblock mit Stiften, ein 18-seitiges Magazin mit Nachrichten von den Organisationen sowie ein Werk von Grode, einen Mundschutz und Kopfhörer.

Carepaket-Empfänger mit gültiger Adresse erhielten ihren Umschlag mit der Post. Wohnsitzlose Künstler konnten sich ihr Paket bei einer Aktivistin abholen. Sie lebt in einem Zelt in Skid Row, das allen bekannt ist.

Die Corona-Pandemie hat die ohnehin schon unerträgliche Situation in der Nachbarschaft weiter verschärft.

Die Corona-Pandemie hat die ohnehin schon unerträgliche Situation in der Nachbarschaft weiter verschärft. Eine Handvoll UVP-Chormitglieder hatte keine Unterkunft, in der sie hätten bleiben können, als am 19. März der »Safer at Home«-Erlass in Kalifornien in Kraft trat. Einer der Chorsänger schlief auf einer Parkbank neben dem Stadion.

notunterkünfte Sofer fühlte sich machtlos. »Es war sehr frustrierend, in den Medien über all die Programme zu lesen und zu hören. Und wenn dann wirklich jemand auf der Straße ist, weiß er nicht, wohin«, entrüstet er sich. Nach zweieinhalb Wochen des Herumtelefonierens half Sofer dem Mann, endlich in eines der 3200 begehrten Hotelzimmer der Los Angeles Homeless Authority zu ziehen. Sie verwaltet diese Notunterkünfte für ältere Wohnsitzlose und solche mit einer Vorerkrankung, da diese ein höheres Risiko haben, an Covid-19 zu erkranken.

Seine Erfahrungen schrieb sich Sofer auf Facebook von der Seele. Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft luden ihn daraufhin zu virtuellen Veranstaltungen ein, um über seine Arbeit und die Situation in Skid Row zu berichten.

»Von den Bühnen, die mir die jüdischen Gemeinden bereitet haben, konnte ich seitdem vor Tausenden, vielleicht sogar Zehntausenden Menschen über unsere Organisation sprechen«, sagt er. »Dafür werde ich immer dankbar sein.«

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