Russland/Ukraine

Krieg der Worte

Vor vier Wochen, am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, brachte die Moskauer Nachrichtenagentur RIA Novosti ein bizarres Video in Umlauf.

Darin wendet sich, als Vertreterin der russischen patriotischen Gesellschaft »Volontäre des Sieges«, eine junge Frau mit der vermeintlichen Botschaft der jüdischen Gemeinde Melitopol, einer Großstadt im teilweise besetzten und inzwischen von Moskau annektierten ukrainischen Gebiet Saporischschja, an die Zuschauer: Man möge die Unterstützung des ukrainischen »Naziregimes« einstellen. Jüdische Menschen hätten immer großen Einfluss in der Welt gehabt. Die Tragödie des Holocaust dürfe sich nicht wiederholen.

Das Video mit wirren Parolen spiegelt den Umgang mit dem, was man jüdische Themen nennen könnte, im Kontext des Krieges wider. Die Schoa wird propagandistisch ausgeschlachtet. »Die Juden« werden als mächtig und einflussreich dargestellt – wobei es gilt, ihre Sympathien zu gewinnen. Hinzu kommen weitere antisemitische Anspielungen und Verschwörungstheorien, die jüdische Auswanderung sowie Diskussionen über die ambivalente Politik des Staates Israel im Ukraine-Krieg.

BANDERA Die Instrumentalisierung des Holocaust hat im postsowjetischen Raum eine lange Tradition und kommt gerade im aktuellen Krieg häufig vor. In der Ukraine wird der NS-Judenmord inzwischen als ein wesentlicher Bestandteil der tragischen ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert betrachtet, und man feiert ukrainische »Gerechte unter den Völkern«, die während der Schoa Juden gerettet haben. Die Tatsache jedoch, dass ukrainische Kollaborateure am Holocaust mitgewirkt haben, wird nur am Rande erwähnt, wenn überhaupt. Stattdessen werden radikale Antisemiten wie Stepan Bandera, der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, glorifiziert.

In der russischen Erinnerungskultur spielt die jüdische Tragödie weiterhin eher eine marginale Rolle und wird vor allem als Aspekt des »Völkermords am sowjetischen Volk« betrachtet und im Rahmen der anti-ukrai­nischen und antiwestlichen Propaganda aufgegriffen.

Nach dem 24. Februar 2022 stehen sich gleich zwei »faschistische« beziehungsweise »nazistische« Narrative gegenüber. Als »Putler« bezeichnet, gilt Russlands Staatspräsident Wladimir Putin in der Ukraine als Reinkarnation Hitlers, die russischen Besatzer werden des Völkermords an den Ukrainern bezichtigt und »Raschisten« genannt. So erscheinen die Ukrainer als »die Juden des 21. Jahrhunderts« und die Russen als grausame NS-Täter.

Als »Putler« bezeichnet, gilt Wladimir Putin in der Ukraine als Reinkarnation Hitlers.

Der jüdischstämmige Staatschef der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, fungiert gewissermaßen als Bindeglied zwischen der jüdischen und ukrainischen Tragödie und zudem als Alibi gegen etwaige Antisemitismus-Vorwürfe. Der mit einer überwiegenden Mehrheit gewählte und heute weithin beliebte Nachkomme von Holocaust-Opfern stehe an der Spitze einer Nation, die sich heldenhaft gegen die russische Mordpolitik wehre, heißt es.

In Russland fabulieren hochrangige Staatsfunktionäre und die Propaganda von einem »Holocaust der Russen«, der sich im Westen und in der Ukraine anbahne. Washington und seine europäischen »Vasallen« würden die Auslöschung Russlands planen. Deutschland wird dabei zunehmend in altsowjetischer Manier als »revanchistischer Nazi-Staat« und treibende Kraft des »westlichen Kreuzzugs« gegen Russland dargestellt.

Die »ukrainischen Nazis« werden zum Werkzeug des Westens herabgestuft. Die Tatsache, dass diese »Nazis« ausgerechnet von einem Staatspräsidenten jüdischer Herkunft geführt werden, stört die russische Propaganda wenig. Selenskyj wird als »Antichrist«, »jüdischer Faschist« oder als »Schande des jüdischen Volkes« verunglimpft.

identität Wolodymyr Selenskyj verheimlicht seine jüdische Herkunft nicht, aber hebt sie auch nicht hervor. Eine jüdische Identität scheint er jedenfalls nicht zu haben. Trotzdem wird er in der Ukraine und noch stärker in Russland als »Jude« konstruiert.

Neben ihm gibt es allerdings auch weitere Juden, die im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stehen: der Oberrabbiner der Ukraine, Mosche Reuven Azman, der in Israel und in der jüdischen Diaspora für die Unterstützung der Ukraine wirbt; der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz und frühere Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, der Russland nach Kriegsausbruch verlassen hat und die russischen Juden zur Auswanderung aufruft; Russlands Oberrabbiner Berel Lazar, der zwar von einer offenen Unterstützung des russischen Kriegs absieht und antisemitische Tendenzen in Russland ungewöhnlich deutlich anprangert, jedoch seine enge Verbindung zu Putin nicht abreißen lässt; der schrille russische Propagandist Wladimir Solowjow, der den Weltkrieg heraufbeschwört und – nicht zuletzt als »russischer Jude« – eine Abrechnung mit den »unverbesserlichen Deutschen« verlangt.

Nicht zu vergessen sind zudem russische Oligarchen jüdischer Herkunft, von denen viele bereits ausgewandert waren, und vor allem Putins Vertrauter Roman Abramowitsch, der sich im Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew engagiert.

intimfeind Abramowitschs Intimfeind Leonid Nev­zlin – ehemals Oligarch, der Russland in den frühen 2000er-Jahren verlassen hatte und inzwischen als israelischer Philanthrop von sich reden macht – steht hingegen fest an der ukrainischen Seite. In ukrainischen und israelischen Medien profiliert er sich als Kreml-Kenner mit Insider-Informationen und kolportiert gezielt Gerüchte über die jüdische Herkunft russischer Spitzenfunktionäre und Militärs.

Nevzlins umstrittene Strategie, die von Ultranationalisten ohnehin behauptete »jüdische Dominanz« in Russland de facto zu bestätigen und somit die antisemitisch geprägte russische Gesellschaft zu spalten, geht zum Teil auf. Angesichts des für Russland ungünstigen Kriegsverlaufs wird in russischen sozialen Netzwerken immer häufiger über »jüdische Verräter« in der Moskauer Führung diskutiert.

Der Antisemitismus ist sowohl in Russland als auch in der Ukraine fest verankert. Obschon in der ukrainischen Gesellschaft inzwischen der virulente Hass gegen Russland und die Russen dominiert und die Judenfeindlichkeit längst eine untergeordnete Rolle spielt, bleiben antisemitische Klischees und Vorurteile in Umlauf.

Russland verunglimpft Wolodymyr Selenskyj als »Antichristen« und »jüdischen Faschisten«.

In Russland kursieren abstruse antisemitische Verschwörungstheorien, die durch die staatliche fremdenfeindliche Hetzpropaganda und die jüdische Massenauswanderung – gerade durch den Braindrain und die Abwanderung prominenter und wohlhabender Menschen nach Israel – zusätzlich verstärkt werden.

staatssicherheit Hierzu gehört auch die bereits in der sowjetischen Staatssicherheit verbreitete Vorstellung, »die Juden« würden die (westliche) Welt regieren. Der einstige KGB-Offizier Wladimir Putin und seine etlichen Mitstreiter mit Staatssicherheit-Hintergrund scheinen diese Vorstellung verinnerlicht zu haben. So sieht Putin vom Verbot der für ihn enttäuschenden jüdischen Auswanderung ab, präsentiert sich weiterhin eher philosemitisch, bezeichnet den Holocaust als »russische Tragödie« und bremst Antisemiten in seinem Umfeld aus, wie etwa Außenminister Sergej Lawrow.

Bestrebt, in der jüdischen Diaspora und in Israel Sympathien zu gewinnen, heben sowohl Kiew als auch Moskau ihre judenfreundliche Haltung hervor. Als für entsetzliche Kriegsverbrechen verantwortlicher Aggressor scheint aber der Kreml den Kampf um die Gunst der »jüdischen Welt« endgültig verloren zu haben – sei es in den Vereinigten Staaten, sei es in Europa oder in Israel, wo die russisch-iranische Zusammenarbeit mit großer Sorge beobachtet wird.

Der Krieg hat zu einem jüdischen Exo­dus aus der Ukraine, aus Russland und auch aus Belarus geführt: Zehntausende Menschen sind nach Deutschland und vor allem nach Israel gegangen.

ISRAEL Mit dem jüdischen Staat sind die beiden Kriegsparteien Russland und die Ukraine eher unzufrieden. Israel steht zwar auf der Seite der Ukraine und unterstützt diese politisch, diplomatisch, humanitär und mit geheimdienstlichen Informationen; es hat sich jedoch bisher nicht den westlichen Sanktionen angeschlossen, liefert weiterhin direkt keine Waffen und lässt seine Verbindung zu Moskau nicht abreißen. Aus Kiewer Sicht tut Jerusalem zu wenig für die Ukraine – aus Moskauer Sicht zu viel.

Der Krieg entwickelt sich indes zu einem erschreckenden Abnutzungskrieg mit dramatischen Zerstörungen und Hunderttausenden von Toten und Verletzten. »Jüdische Themen« spielen in diesem Krieg bereits heute eine bemerkenswerte Rolle, und ihre Bedeutung wird aufgrund der Radikalisierung weiterhin zunehmen.

Der Autor ist Historiker und lebt in Düsseldorf.

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