USA

Kiddusch ohne Fleisch

Als die Mitglieder der Reformgemeinde Peninsula Temple Beth El (PTBE) im kalifornischen San Mateo vergangenes Jahr am ersten gemeinsamen Kiddusch seit Beginn der Pandemie teilnahmen, bemerkten sie kleine Veränderungen: Zwischen den auf langen Tischen aufgereihten verschiedenen warmen und kalten Gerichten waren Aufsteller platziert.

Die größte Veränderung aber betraf das Essen selbst: Die meisten Gerichte waren pflanzlich, und die wenigen Speisen mit Fleisch hatte man absichtlich ganz ans Ende des Buffets gestellt.

BUFFET Die mehr als 1000 Mitglieder zählende Gemeinde hat sich der sogenannten Gree­ner-by-Default-Initiative angeschlossen. Demnach werden standardmäßig vegetarische oder vegane Gerichte serviert. Und wenn es Teilnehmer wünschen, dann können sie tierische Produkte bestellen.

Wenn es, wie es bei den monatlichen Zusammenkünften, ein Buffet gibt, wird nur noch eine geringe Menge tierischer Produkte angeboten. Sie werden strategisch am Rand des Buffets aufgebaut, damit Gäste sich im Idealfall ihren Teller schon vollgeladen haben, bevor sie zu dem Bereich mit tierischen Gerichten gelangen.

»Damit helfen wir unseren Mitgliedern, sich durch ›grüneres‹ Essen jüdischer zu fühlen«, sagt Jessica Rosenberg, die in ihrer Synagoge den Anstoß gab, sich der Initiative anzuschließen. Rosenberg ist in ihrer Gemeinde eine von fünf Leitern der sogenannten Rodfe-Zedek-Gruppe, die sich dem Kampf um mehr soziale Gerechtigkeit verschrieben hat.

klimawandel In einer Reihe von Diskussionen wurde in Kleingruppen darüber gesprochen, auf welche Probleme Rodfe Zedek, 2017 gegründet, ihr Hauptaugenmerk richten sollte. Als klarer »Sieger« ging der Klimawandel hervor.

Rosenberg, die seit zwölf Jahren Mitglied der Gemeinde ist, sagt, die Entscheidung, Greener by Default einzuführen, spiegele sechs jüdische Prinzipien wider. Unter anderem handelt es sich dabei um Zedek (Gerechtigkeit), Zaar Baalei Chajim (Tieren nicht unnötig Leid zufügen), Oschek (landwirtschaftliche Arbeiter nicht ausbeuten) und Tikkun Olam (die Welt reparieren).

Ausgedacht hat sich die auch als DefaultVeg bekannte Idee die Jewish Initiative for Animals (JIFA). Sie berät seit 2019 andere jüdische Organisationen und hilft ihnen, pflanzliche Mahlzeiten zum Standard zu machen und nicht, wie sonst üblich, tierischen Lebensmitteln den Vorzug zu geben und vegane Alternativen nur auf Anfrage anzubieten.

STUDIEN »Verhaltenspsychologische Studien haben gezeigt, dass die meisten Menschen bei dem bleiben, das vorgegeben ist«, erklärt Melissa Hoffman, Leiterin der Programmabteilung bei JIFA. Als Beispiel führt sie die Diskussion um die Organspende an: In Amerika ist auf dem Führerschein vermerkt, ob jemand Organspender ist oder nicht. In Ländern, in denen automatisch das Kästchen »Organspender« angekreuzt ist und der Fahrer bewusst das Kreuz an anderer Stelle machen muss, um seinen Status zu ändern, ist die Rate an Organspendern höher, weil viele sich oft nicht die Mühe machen, sich alle Optionen durchzulesen.

Von den Mitgliedern ihrer Gemeinde haben Rosenberg und ihr Team bisher nur positive Rückmeldungen erhalten. »Machen wir das nicht schon immer so?«, fragte eine Frau, nachdem sie von der neuen Richtlinie erfahren hatte.

Der Entschluss, die Vorzüge pflanzlicher Ernährung hervorzuheben, ist eingebettet in das Bestreben, eine »grünere« Gemeinde zu werden. Andere Maßnahmen der Ini­tiative sind das Anbringen von Solarzellen auf dem Dach und das Pflanzen eines Gerechtigkeitsgartens, dessen Ertrag an lokale Tafeln gespendet wird.

Zwang gibt es nicht: Wer es ausdrücklich wünscht, kann tierische Produkte bestellen.

Gehört hat Rosenberg von DefaultVeg während der Corona-Krise in einem Online-Seminar zum Klimaschutz. »Wir saßen alle zu Hause und haben nach Ins­piration gesucht«, erinnert sie sich. Da habe sie durch Zufall einen Vortrag von Ilana Braverman gehört. Sie ist Beraterin für Nahrungsmittelpolitik bei der Jewish Initiative for Animals und hat in den vergangenen Jahren auch dem New Yorker Avodah Institute for Social Change geholfen, neue Richtlinien für Speisen bei Veranstaltungen zu erstellen.

»Als Organisation, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und jüdische Führungskräfte ausbildet, waren wir der vegetarischen Ernährung gegenüber immer sehr aufgeschlossen«, sagt Avodah-Kommunikationschefin Amanda Linder. Wie viele ihrer jüngeren Kollegen und Semi­narteilnehmer lebt Lindner selbst vegan.

Avodah ist dezentral organisiert und hält Seminare und Konferenzen in mehreren Städten in den Vereinigten Staaten ab. In ihrer Beratung half Braverman, dass Avodah überall geeignete Cateringunternehmen und Lebensmittellieferanten findet, damit die Organisation die DefaultVeg-Richtlinien problemlos umsetzen kann.

AUSLEGUNG Jessica Rosenberg, die selbst nicht vegetarisch oder vegan lebt, hebt hervor, dass es ihrer Gemeinde nicht um eine dogmatische Auslegung der Greener-by-Default-Richtlinien gehe. Wenn Mitglieder eine Veranstaltung ausrichten, wie zum Beispiel eine Bar- oder Batmizwa, dann werden sie auf die Richtlinie hingewiesen, aber nicht gezwungen, sie zu befolgen.

»Das wichtigste Event unserer Männergruppe ist das jährliche Grillfest«, sagt Rosenberg. »Statt zu verlangen, dass alles umgestellt wird, haben wir vorgeschlagen, an kleinen Stellschrauben zu drehen«, sagt sie. So werde beim nächsten Mal empfohlen, Gemüse-Hotdogs oder -burger zu essen.

Und als im Dezember die Band »Hot Pastrami« in der Gemeinde auftrat, gesponsert von Mitgliedern, die ein Pastrami-Restaurant betreiben, machten die Verantwortlichen ganz ohne schlechtes Gewissen gern auch mal eine Ausnahme. »Unserer Meinung nach passt eine solche Ausnahme hervorragend zur Philosophie unserer Initiative: Alles in Maßen und kleine Schritte haben eine große Wirkung«, führt Rosenberg aus. »Wenn die überwiegende Anzahl unserer gemeinsamen Mahlzeiten pflanzlich ist, haben wir schon viel erreicht.«

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