Kuba

Karibisches Tauwetter

Vor der Revolution lebten viele Juden in der Altstadt von Havanna. Heute erinnert nur noch wenig an ihre Präsenz. Selbst die Synagoge Adath Israel – sie ist das älteste jüdische Bethaus auf Kuba und von außen ein hässlicher Betonklotz – fällt in erster Linie wegen des martialischen Stacheldrahts ins Auge. »Er soll Eindringlinge abschrecken«, sagt David Vega Osin. Die Gegend habe nicht den besten Ruf.

Der 63-Jährige ist meist vormittags im Gemeindehaus; am Nachmittag arbeitet er in einer nahe gelegenen Tabakfabrik. Außer ihm sind an diesem Tag noch ein paar Frauen in die Synagoge gekommen.

Sie fertigen Stoffpuppen mit bunten Kleidchen. Auf einem Tisch im Gemeinderaum liegen Kippot mit den eingestickten Flaggen Kubas und Israels zum Verkauf bereit. In der Ecke steht ein großes Spendenschild. Die jüdischen Gemeinden in Kuba erhalten, wie alle Religionsgemeinschaften im Land, keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Sie sind auf Spenden von Besuchern und auf jüdische Organisationen im Ausland angewiesen.

Geschichte »Kubas jüdische Gemeinde hat hier in der Altstadt ihren Ursprung«, erzählt Vega. Die ersten Juden kamen 1898 als Soldaten der US-Interventionsstreitkräfte oder Vertreter der großen amerikanischen und europäischen Zucker- und Tabakkonzerne nach Kuba; 1906 gründeten US-amerikanische Reformjuden die Synagoge Chevet Achim. Von ihr zeugt heute nur noch eine unscheinbare Fassade. In den 20er-Jahren war sie Anlaufpunkt für Tausende Juden aus Osteuropa, die vor den Pogromen aus ihren Heimatländern geflohen waren und in Kuba sichere Aufnahme fanden. Binnen weniger Jahre entstand in der Altstadt ein jüdisches Viertel mit rund 7000 Einwohnern, zahlreichen koscheren Restaurants und jüdischen Geschäften.

Heute gibt es im Viertel nur noch eine koschere Fleischerei. Sie ist die einzige in ganz Kuba und liegt in der Nähe der Adath-Israel-Synagoge. Wegen der schwierigen Versorgungslage führen aber nur wenige Juden auf Kuba einen koscheren Haushalt.

Bis Anfang der 50er-Jahre lebten rund 15.000 Juden auf der Insel. Während der Revolution 1953 bis 1958 und danach wanderten rund 90 Prozent von ihnen aus, vor allem in die USA. Zwar verboten die neuen Machthaber die Ausübung der Religion nicht, aber sie hatte Benachteiligungen zur Folge, etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Auch durften Angehörige einer Religionsgemeinschaft nicht Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Das betraf nicht nur Juden, sondern alle Religionen.

»Viele Menschen haben sich in jenen Jahren von den Synagogen entfernt und die Religion nicht mehr praktiziert – oft aus pragmatischen Gründen«, sagt der Historiker Fidel Babani Leon, Direktor der einzigen auf jüdische Themen spezialisierten Bibliothek des Landes. Sie ist im Patronato, dem Hauptsitz der jüdischen Gemeinde Kubas, im Stadtteil Vedado untergebracht. Der Bau aus dem Jahr 1953, in dem sich auch die aschkenasische Synagoge Beth Shalom befindet, wurde von dem berühmten Architekten Alquiles Capablanca entworfen und gilt als eines der Prunkstücke moderner Architektur in Havanna. In einem Teil des Gebäudes ist seit 1980 das Bertolt-Brecht-Theater untergebracht.

Damals, als die Synagogen leer blieben, habe der Staat viele der prächtigen jüdischen Einrichtungen umfunktioniert, erzählt Babani. So wurde die Synagoge von Santiago de Cuba in ein soziales Zentrum umgewandelt, und in der Synagoge von Santa Clara brachte man Büros unter. Der Schmerz darüber steht Babani ins Gesicht geschrieben.

Doch in jenen Jahren, als die Gemeinde immer weiter schrumpfte, gab es auch Menschen wie Abraham Berezniak, die die jüdische Tradition am Leben hielten. Berezniak fuhr regelmäßig über die Insel und belieferte jeden Juden, der es wollte, mit koscherem Fleisch.

Nachdem dann 1992 die kubanische Verfassung geändert wurde – der Staat erklärte, von nun an laizistisch und nicht mehr atheistisch zu sein –, erlebte das Religiöse eine Wiederbelebung. Als die damaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Jose Miller und Adela Dworin, die staatliche Erlaubnis erhielten, die Gemeinde neu zu organisieren, erinnerten sie sich an Abraham Berezniak. Denn er besaß eine Liste mit den Namen aller Juden auf der Insel.

»Die Gemeindehäuser und Synagogen befanden sich damals in einem erbärmlichen Zustand«, erinnert sich der Historiker Babani. »Sie wurden in den Folgejahren jedoch komplett restauriert und zum Teil wiedereröffnet«, vor allem mit finanzieller Hilfe des American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) und anderer jüdischer Organisationen im Ausland.

Heute hat die Gemeinde rund 1500 Mitglieder, davon 1100 in Havanna. Ihr gehören Ärzte, Ingenieure, Arbeiter und auch Kleinunternehmer an. Man finde in Kuba Juden in allen Schichten der Gesellschaft, sagt Babani. Die Gemeinde betreibt eine kleine Apotheke und eine Sonntagsschule, in der allwöchentlich rund 180 Schüler, vom Kleinkind bis zum Rentner, ins Judentum, in die Geschichte Israels und die hebräische Sprache eingeführt werden.

Die Beziehungen zur Regierung seien sehr gut, sagt Babani. Und zu keiner Zeit habe es nennenswerten Antisemitismus gegeben. »In Kuba sind Juden nie für ihr Judesein verfolgt worden.« Doch gebe es auch Probleme: »Die jungen Leute wandern aus.« Das Phänomen betrifft nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern die gesamte Gesellschaft. Wegen Mangelwirtschaft und geringer Einkommen suchen immer mehr junge Kubaner ihr Glück im Ausland.

Einschränkungen Das religiöse Leben auf der Insel ist kleinen Einschränkungen unterworfen. Zu den Gottesdiensten in der Beth-Shalom-Synagoge, dem größten der sechs Bethäuser auf der Insel, kommen in der Regel rund 120 Menschen, an den Hohen Feiertagen sind es auch schon mal 500. Allerdings gibt es seit 1959 keinen Rabbiner mehr auf Kuba. Religiöse Zeremonien können deshalb nur abgehalten werden, wenn Rabbiner Shmuel Szteinhendler auf die Insel kommt. Er lebt in Chile und versorgt seit mehr als 20 Jahren notdürftig die Juden auf Kuba.

Auch Elhanan Schnitzer, Rabbiner einer kleinen jüdischen Gemeinde in der Nähe von Washington und Präsident der Cuba-America Jewish Mission (CAJM), springt gelegentlich bei religiösen Feierlichkeiten ein. Zudem bringt er regelmäßig Geld- und Sachspenden auf die Insel und organisiert religiöse Gruppenreisen nach Kuba. Zum Pflichtprogramm der von ihm geführten Besucher aus den USA gehört auch das sefardische Gemeindehaus. Es befindet sich ebenfalls in Vedado, nur ein paar Häuserblocks vom Patronato entfernt. Im vorderen Teil des gewaltigen Saals wird eine kleine Schoa-Ausstellung gezeigt; hinten probt gerade eine Gruppe zeitgenössischen Tanz.

»Die Miete sichert der Gemeinde eine kleine Einnahme«, sagt Simon Goldsztein. Der 77-Jährige, der 50 Jahre lang als Elektriker in einem staatlichen Betrieb gearbeitet hat, betreut die Ausstellung und bessert damit seine karge Rente auf. Er selbst ist Aschkenase. »Aber in Kuba spielt das keine große Rolle«, sagt er, »wir sind eine einzige Gemeinde.« Goldszteins Vater kam 1928 aus Warschau. Er wollte wie seine beiden Brüder weiter in die USA, aber wegen der verschärften Einwanderungsbestimmungen und weil er nicht genügend Geld hatte, blieb er in Kuba.

Zurzeit kämen jede Woche drei, vier Besuchergruppen, vor allem aus den USA, berichtet Goldsztein. Seit US-Präsident Obama 2011 die Beschränkungen für religiöse Gruppenreisen aufgehoben hat, kommen immer mehr Juden aus den USA zu Besuch.

Einer, der die neuen Möglichkeiten nutzt, ist Josef »Joe« Gutenberg. Er lebt in der Nähe von Washington und ist Teil einer Reisegruppe, die zehn Tage lang die jüdische Gemeinde auf der Insel besucht. Er fühle »eine Schuld mit Kuba«, sagt Gutenberg. Vor mehr als 40 Jahren hätte er, gemeinsam mit rund 1000 jungen US-Amerikanern, die Gelegenheit gehabt, nach Kuba zu reisen, um bei der mythischen »gran zafra«, der großen Zuckerrohrernte, zu helfen. Doch habe er sich dagegen entschieden und sei an seinem College in den USA geblieben. »Dieser Stachel sitzt tief«, sagt er. »Ich bin nun hier, um mein Geld dazulassen« – und so der jüdischen Gemeinde in Kuba zu helfen. Reisen wie diese könnten außerdem dazu beitragen, die andere Seite besser zu verstehen, sagt Gutenberg.

Doch der Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA ist noch weit – wenn auch seit dem 17. Dezember nicht mehr ganz so weit. An jenem Tag ließ Kuba den jüdischen US-Bürger Alan Gross aus »humanitären Gründen« frei. Der heute 65-Jährige war im Dezember 2009 in Havanna festgenommen worden. Er soll im Auftrag der Entwicklungshilfebehörde USAID satellitengestützte technische Geräte nach Kuba geschmuggelt haben. Angeblich waren sie für die kleine jüdische Gemeinde auf der Insel bestimmt. Die aber erklärte, es gebe keinerlei Verbindung zu Gross. Wegen Spionage wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt. Zuletzt hatte er mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und Selbstmordabsichten geäußert.

Cuban Five Elhanan Schnitzer kennt Alan Gross persönlich. »Ich bin zwar nicht sein Rabbiner, aber wir haben vor Jahren zusammen Kuba besucht, und ich habe Alan mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde der Insel bekannt gemacht«, erzählt er. Jahrelang habe er sich für Gross eingesetzt. Nach dessen überraschender Freilassung ließ die US-Regierung drei noch in den USA einsitzende, als Cuban Five bekannt gewordene, kubanische Agenten ausreisen. Wenig später erklärten US-Präsident Obama und Kubas Staatschef Raúl Castro in Ansprachen, sie seien bereit, das Verhältnis zwischen beiden Ländern neu auszurichten und über die Wiederaufnahme der 1961 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu verhandeln.

»Selbstverständlich sind wir sehr froh, dass Alan wieder zu Hause bei seiner Familie ist und es ihm gesundheitlich besser geht«, sagt Rabbi Schnitzer. Ähnlich äußert sich auch Babani. Gross’ Freilassung und die der Cuban Five habe er mit Freude und großer Erleichterung aufgenommen. Wie viele Kubaner blickt er seit dem 17. Dezember zuversichtlich in die Zukunft.

Nun seien neue Möglichkeiten für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Kuba gegeben, sagt Schnitzer. »Wir machen uns aber keine Illusionen, dass dies schnell gehen wird. Es wird vielleicht zwei Schritte voran und wieder einen Schritt zurück gehen. Aber der Wandel hat begonnen.« Dass daran auch Kubas Juden ihren Anteil haben, steht für Schnitzer außer Frage: »Die Beziehungen zwischen den jüdischen Gemeinden in Kuba und den USA haben die Dynamik der Beziehungen zwischen beiden Ländern verändert.«

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