Russland

Jahrzeit nach dem Mord

Ein Mord auf offener Straße, in Sichtweite des Kreml: Das Attentat auf den Oppositionspolitiker Boris Nemzow im Februar 2015 schreckte den liberal eingestellten Teil der russischen Gesellschaft auf. Repressionen gegen Kremlgegner hatte es schon seit Jahren gegeben, doch die Schüsse im Herzen Moskaus stellten eine neue Qualität der Einschüchterung dar. Russlands Präsident Wladimir Putin verurteilte die Tat, die Behörden präsentierten rasch die mutmaßlichen Todesschützen. Doch Spuren, die bis ins Umfeld Ramsan Kadyrows, des Oberhaupts der Republik Tschetschenien, führen, wurden nicht konsequent verfolgt, und nach wie vor ist vieles ungeklärt im Mordfall Nemzow.

Lebenswerk Knapp ein Jahr nach dem Mord lebt Nemzows Tochter, die junge Journalistin Schanna Nemzowa, im deutschen Exil und hat nun ein Buch vorgelegt, das sowohl Denkmal des Lebenswerks ihres Vaters sein möchte als auch eine Abrechnung mit dem politischen System Russlands. Russland wachrütteln ist der programmatische Titel des Werks, in dem Nemzowa zu grundlegenden Veränderungen in ihrer Heimat aufruft, sich aber gleichzeitig ganz offensichtlich an ein deutsches Publikum richtet.

Es ist in mancherlei Hinsicht ein widersprüchliches Werk, das Nemzowa mit Unterstützung des Journalisten Boris Reitschuster verfasst hat – und das darf es auch sein. Denn anders als ihr Vater befand sich Nemzowa, bevor der Mord sie ins Exil trieb, keineswegs in radikaler Opposition zum System. 1984 geboren, hatte sie sich eingerichtet in der Wirklichkeit des postsowjetischen Russland, bezeichnet sich selbst als Angehörige der »Generation Putin«. »Solange mein Vater gelebt hat«, schreibt Nemzowa, »gab es eine klare Aufgabenteilung in unserer Familie: Er war für den politischen Kampf zuständig, mich berührte dieser eher am Rande in meiner Arbeit als Journalistin beim Fernsehsender RBK.«

Vater Boris nahm in seinem politischen Wirken kein Blatt vor den Mund, Tochter Schanna spezialisierte sich als Journalistin auf Wirtschaftsthemen, vermied es, sich zur Politik zu äußern.

herkunft Für Boris Nemzow war in jeder Hinsicht klar, wo er hingehörte, nicht nur politisch. Als »weltgewandt« erinnert sich seine Tochter an ihn, aber dabei auch »durch und durch russisch«. Ausländern konnte er, für den die jüdische Herkunft wenig bedeutete, dessen jüdische Mutter sogar großen Wert darauf legte, dass die Kinder sich völlig russisch fühlten, ein Kompliment machen, wenn er sagte, sie seien »wie ein Russe«.

Zur Emigration konnte sich Nemzow auch nicht durchringen, als die Luft für ihn spürbar dünner wurde. Zur Tochter sagte er: »Russland ist mein Land, da werde ich gebraucht, und nur da bin ich zu Hause. Und wenn das Gefängnis bedeutet, dann bedeutet es das eben.«

Ganz anders Schanna Nemzowa: Die in Russland geläufige Einteilung in »Fremde« und »Landsleute« liegt ihr nach eigenem Bekunden ebenso fern wie Nostalgie nach Russland. Zu den jüdisch-russischen Wurzeln haben sich bei ihr seitens der Mutter tatarisch-muslimische Vorfahren gesellt, ohne dass Nemzowa für eine dieser Identitäten Partei ergreift.

Deutschland, wo Nemzowa als Journalistin in der russischen Redaktion der Deutschen Welle arbeitet, ist für sie ein eher zufälliger Ort für ihr Exil. Nicht sie habe sich für das Land entschieden, »Deutschland hat mich ausgewählt«. Eigentlich sieht sie sich als Weltbürgerin – und schreibt dann wieder Zeilen wie diese: »Ich gebe die Hoffnung nicht auf, irgendwann einmal wieder in Russland meinem Beruf nachgehen und dort leben zu können, ohne Angst um meine Sicherheit zu haben.«

Perestroika
Die warmherzigen Erinnerungen einer Tochter an ihren toten Vater lassen sich auch als das Porträt einer Generation lesen, deren Zeit abgelaufen ist. Boris Nemzows politisch prägende Zeit war die Perestroika, politischen Einfluss hatte er in den 90er-Jahren unter Boris Jelzin, die von einer Aufbruchstimmung ebenso geprägt waren wie vom allgemeinen Chaos im Land. Eine gewisse Unbekümmertheit und ein starker Gerechtigkeitssinn scheinen den Mann zu charakterisieren, der etwas für Russland geradezu Unerhörtes machte: »Er tat einfach, was er für richtig hielt.« Damit fehlte ihm, so analysiert Schanna Nemzowa, etwas zum Überleben in Russland sehr Wichtiges, das sie als Selbsterhaltungstrieb, als innere Bremse beschreibt.

Boris Nemzow, das wird im Rückblick auf seine Zeit als Gouverneur in Nischni Nowgorod und auf seine Tätigkeit als stellvertretender Regierungschef in den Jahren 1997 und 1998 deutlich, hat das junge, postsowjetische Russland mitgeprägt. Wären die Dinge anders gelaufen, hätte möglicherweise Nemzow selbst, anstelle Wladimir Putins, Boris Jelzin im Jahr 2000 als Präsident beerben können. Doch Nemzow scheiterte ausgerechnet an dem, was Putin später zu seinem Programm machen sollte: der Entmachtung der Oligarchen. Unübertroffen nüchtern ist Putins Analyse von Nemzows Scheitern, die Nemzow selbst festhielt: »Sie hätten zuerst die Macht an sich nehmen sollen und dann mit den Oligarchen kämpfen.«

Nemzow sollte seinen Überzeugungen treu bleiben, doch Russland wandelte sich unter Putin. Unermüdlich kämpfend, aber ohne reale politische Perspektiven schien Nemzow gegen Ende seines Lebens, nicht einmal 60 Jahre alt, bereits nicht mehr in die Zeit zu passen. Doch auch die heutige Gesellschaftsordnung in Russland befindet sich im Fluss, und eines Tages wird es die in den 80er- und 90er-Jahren geborene »Generation Putin« sein, die die Geschicke des Landes lenkt. Zwischen den Zeilen handelt das Buch, das Schanna Nemzowa über ihren Vater schrieb, so auch viel mehr von ihr selbst, ihrer Generation und deren nicht abgeschlossener Suche nach einer Identität in einer sich verändernden Welt.

Blickwinkel Und dann gibt es da noch so etwas wie ein Buch im Buch, einen anderen Blickwinkel, komprimiert auf wenige Absätze: Die Erinnerungen von Nemzows Mutter, Schannas Großmutter Dina. Jener Frau, die in der Jugend noch etwas Jiddisch verstand, ihre Kinder aber zu Russen erziehen wollte. Jener Frau, der Präsident Putin mit einem doppeldeutigen Telegramm kondolierte, das ohne offensichtlichen Grund ihren eindeutig jüdisch klingenden Mädchennamen Eidmann enthielt, den sie vor langer Zeit abgelegt hatte.

Dina Nemzowa nahm das Buch ihrer Enkelin zum Anlass, ebenfalls ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Und so erhält der Leser ganz nebenbei Einblick in vier Generationen russisch-jüdischer Familiengeschichte. Sie beginnen in Nischni Nowgorod, in einer Zweizimmerwohnung mit Kohleofen und Außentoilette, bei Schannas Urgroßvater, einem überzeugten Kommunisten, der Lenin noch mit eigenen Augen gesehen hatte. Und sie enden mit der lakonischen Bemerkung, die jüdische Herkunft könne »bei der Selbstverwirklichung in Russland stören«.

Schanna Nemzowa: »Russland wachrütteln. Mein Vater Boris Nemzow und sein politisches Erbe«. Ullstein, Berlin 2016, 192 S., 18 €

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