Nachruf

Jahrhundert-Historiker

Walter Laqueur (1921–2018) Foto: dpa

Nachruf

Jahrhundert-Historiker

Zum Tod von Walter Laqueur, dem Vater der Terrorismusforschung und Experten des Nahen Ostens

von Ralf Balke  08.10.2018 20:00 Uhr

Er war einer der Letzten aus einem sehr exklusiven Klub. Mit Walter Laqueur ist am 30. September im Alter von 97 Jahren in Washington nicht nur ein brillanter Analytiker der Gegenwart und Vergangen­heit gestorben, sondern ein jüdischer Intellektueller, wie ihn vielleicht nur die Stadt Breslau hervorbringen konnte.

Die schlesische Industrie- und Kulturmetropole war vor dem Zweiten Weltkrieg Deutschlands drittgrößte Stadt sowie Heimat von rund 25.000 Juden. Der Historiker Fritz Stern stammte ebenfalls von dort wie auch der Politikwissenschaftler Guenter Lewy oder die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch.

1938 gelang Laqueur kurz vor der Reichspogromnacht die Flucht nach Palästina. Doch seine Eltern und viele Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Ein »Überlebender durch Glück«, so beschrieb sich Laqueur einmal selbst.

Kibbuz In Palästina angekommen, schloss er sich der Kibbuzbewegung an, lernte Hebräisch, überraschenderweise auch Russisch, und begann zu schreiben. Erste journalistische Gehversuche machte er bereits während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948. Irgendwann allerdings wurde es ihm in den Kollektivsiedlungen zu eng. »Auf diese Weise wollte ich nicht den Rest meiner Tage verbringen.«

Das musste Laqueur auch nicht. Im Alter von Mitte 30 siedelte er mit seiner Familie nach London über und gründete dort gemeinsam mit George Mosse das »Journal of Contemporary History«. Wichtige Stationen seiner Karriere waren unter anderem die Wiener Library in Großbritannien sowie die Brandeis University und die Georgetown University in den Vereinigten Staaten und natürlich das Center for Strategic and International Studies, eine renommierte Denkfabrik in Washington.

Sukzessive machte er sich einen Namen, zuerst als Experte für die Geschichte Europas und des Zionismus, dann folgten seine viel beachteten Veröffentlichungen zur Sow­jetunion und zum Terrorismus und dessen Ursachen.

Europa »Ich wurde ein Historiker der Nachkriegszeit in Europa, aber das Europa, wie ich es kannte, gibt es nicht mehr«, sagte er 2013 dem Nachrichtenmagazin »Spiegel« in einem Interview. »Mein Buch Europa aus der Asche erschien 1970, und es endet mit einer optimistischen Einschätzung der Zukunft. Später, 2008, folgte Die letzten Tage von Europa. Mit meinem jüngsten Werk Europa nach dem Fall habe ich noch einmal nachgelegt. Die Reihenfolge der Titel sagt eigentlich schon alles.«

Dabei hat sich Laqueur in seiner Deutung der Krisen der Gegenwart nie als eine Kassandra-Stimme verstanden. Vielmehr – und das bestätigt seine luzide wie auch nüchterne Sprache – sah er sich als skeptischen Aufklärer. Mehr als 70 Bücher hat er im Laufe seines langen Lebens geschrieben oder mit herausgegeben. Aber auch als Publizist machte er sich einen Namen.

Geradezu prophetisch waren Laqueurs Einschätzungen über die Entwicklung Russlands nach dem Ende der Sowjetunion. Als alle Welt euphorisch vom »Ende der Geschichte« sprach, schrieb er Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten. Darin setzte er sich mit den geistesgeschichtlichen Wurzeln der postsowjetischen Neuen Rechten auseinander und verwies unter anderem auf deren Antisemitismus als integrative Klammer und Motivationsfaktor.

aussenpolitik Bereits in den 70er-Jahren begann Laqueur, sich mit dem Terrorismus ausein­anderzusetzen. Er wandte sich schon da­mals gegen die vorherrschenden Deutungsmuster, dass es sich dabei um ein Phänomen handelte, das allein mit sozialen Ungerechtigkeiten oder einer verfehlten Außenpolitik zu tun habe.

Eine solche Komplexitätsreduzierung könne nur fatale Folgen haben, warnte er und forderte immer wieder, die ideologischen Wurzeln des politischen Islam in die Analysen mit einzubeziehen. Wer Terrorismusexperte sein will, müsse sich mit dem Nahen Osten und den Religionen vor Ort auseinandersetzen – anderenfalls würden alle Erklärungen ins Leere laufen.

Angesichts der vielen Problemfelder un­serer Zeit wird man Walter Laqueurs unkonventionelle, aber unaufgeregte Kommentare sehr vermissen.

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Imanuels Interpreten (13)

Herb Alpert: Der Universalkünstler

Vom Trompeter zum Philantropen: Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Kalifornien erreichte in den 90 Jahren seines bisherigen Lebens viel

von Imanuel Marcus  10.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025

Belgien

Aus der Straße des Antisemiten wird die Straße der Gerechten

In Brüssel gibt es jetzt eine Rue Andrée Geulen. Sie ist nach einer Frau benannt, die im 2. Weltkrieg mehr als 300 jüdische Kinder vor den deutschen Besatzern rettete. Doch bei der Einweihung herrschte nicht nur eitel Sonnenschein

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Vuelta

Spanischer Radprofi Romo stürzt wegen Protestaktion

Die »propalästinensischen« Proteste bei der Spanien-Rundfahrt nehmen kein Ende. Auf der 15. Etappe ist es zu Stürzen gekommen

 07.09.2025