Nachruf

Jacques Chirac, Israel und die Juden

Haïm Musicant erinnert sich an den früheren französischen Premierminister

von Haim Musicant  02.10.2019 16:33 Uhr

»Er versteht nichts von Israel«: Jacques Chirac im Jahr 1996 an der Kotel in Jerusalem. Foto: dpa

Haïm Musicant erinnert sich an den früheren französischen Premierminister

von Haim Musicant  02.10.2019 16:33 Uhr

Wie viele Franzosen hat auch mich die Nachricht vom Tod Jacques Chiracs traurig gemacht. Es war seit langem bekannt, dass er krank war und zuletzt sehr zurückgezogen lebte. Sein Tod hat zahlreiche Erinnerungen geweckt.

Zu Lebzeiten hatten viele französische Juden gesagt: »Chirac versteht nichts von Israel.« Andere gingen sogar noch kritischer mit ihm ins Gericht: »Chirac mag zwar tote Juden, aber nicht so sehr die lebenden.« In Wahrheit war es wie so oft im Leben: Die Dinge waren nicht nur schwarz oder weiß, sie hatten viele Schattierungen.

EINDRÜCKE Meine ersten persönlichen Eindrücke von Chirac bekam ich, als er noch Bürgermeister von Paris war, der erste übrigens, der direkt von der Bevölkerung gewählt wurde. Er baute damals enge Beziehungen zu jüdischen Organisationen auf, unterstützte die Eröffnung jüdischer Schulen in der Stadt und genehmigte den Bau des Jüdischen Museums von Paris. Ich erinnere mich auch an zahlreiche Empfänge zu Ehren jüdischer und israelischer Persönlichkeiten im Rathaus.

Chirac wagte auszusprechen, was zuvor kein Präsident gesagt hatte: Frankreich trägt Mitschuld an der Schoa.

Frappierend fand ich auch die fast ständige Anwesenheit des Oberrabbiners der Lubawitscher Gemeinde, Hillel Pevzner, und dessen Sohn bei diesen offiziellen Anlässen. Später, als Jacques Chirac Präsident war, sah man die beiden auch oft im Elysée-Palast umher spazieren. Chirac pflegte auch gute Beziehungen zu Frankreichs Oberrabbiner Joseph Sitruk und seinem damaligen Kabinettschef Haïm Korsa, der heute Sitruks Nachfolger ist.

REDE Natürlich erinnere ich mich besonders an die historische Rede von Jacques Chirac am 16. Juli 1995. An jenem Tag erkannte er im Namen der Republik die Mitverantwortung Frankreichs an der Deportation der Juden in die Todeslager an. Einige Tage zuvor hatte Jacques Chirac den neuen Präsidenten des CRIF, des jüdischen Dachverbandes, Henri Hajdenberg, empfangen. Hajdenberg lud den Präsidenten ein, an der alljährlichen Gedenkfeier für die deportierten Juden teilzunehmen, und Chirac sagte spontan zu. Es war das erste Mal, dass ein amtierender Präsident dies tat.

Aber Chirac verriet der CRIF-Delegation nicht vorab, was er in seiner Ansprache sagen würde. Der 16. Juli 1995 war für uns alle ein Paukenschlag. Chirac wagte auszusprechen, was sich alle Präsidenten zuvor geweigert hatten zu sagen: Frankreich trägt Mitschuld an der Schoa. Während Chiracs Präsidentschaft wurde auch die »Fondation pour la Mémoire de la Shoa« ins Leben gerufen – eine Initiative, die Chiracs Premierminister beim alljährlichen Dîner des CRIF bekanntgab.

AUSCHWITZ Ich war auch Teil der offiziellen Delegation, welche Jacques Chirac 2005 nach Auschwitz begleitete. Und im Januar 2007, kurz vor Ende seiner Amtszeit, konnte ich an einer Gedenkfeier teilnehmen, die in gewisser Weise Chiracs Beitrag zum Gedenken an die Schoa vollendete: In Gegenwart von Simone Veil und Elie Wiesel wurden 2725 Gerechte, die während des Kriegs Juden das Leben gerettet hatten, ins Pantheon überführt.

Zu würdigen ist auch Chiracs klare Haltung gegenüber dem Front National (FN). Als Chef der gaullistischen Partei (zunächst des RPR, später der UMP) verurteilte er immer klar und eindeutig die extremistischen Positionen des FN. Er war es, der einen »Cordon sanitaire« gegen die Le-Pen-Partei einführte und seine Anhänger darauf einschwor, kein Bündnis mit der extremen Rechten einzugehen.

* * *

Frankreichs Juden haben seit der Jahrtausendwende eine schwierige Zeit durchlebt. Gleichzeitig mit dem Beginn der Zweiten Intifada in Israel wurden wir von antisemitischen Angriffen heimgesucht. Es war politisch gesehen eine seltsame Zeit in Frankreich. Jacques Chirac war zwar ab Mai 1995 Präsident, aber die Sozialisten gewannen zwei Jahre später die Parlamentswahlen, und Lionel Jospin wurde Premierminister.

SOZIALISTEN Zwischen der Sozialistischen Partei und der jüdischen Gemeinschaft herrschte großes Unverständnis. Die Sozialisten waren blind gegenüber dem aufkeimenden Antisemitismus; die Vorfälle waren für sie Taten von Verwirrten. Gefangen in ideologischem Denken konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Für sie war es schlicht unmöglich, dass Muslime oder Schwarze, die ja selbst Opfer von Rassismus waren, rassistische Taten begehen würden. Wir erklärten ihnen lang und breit, dass wir Juden Schutz brauchten. Doch vergeblich.

Mit Chiracs Amtsantritt wurde der Kampf gegen Antisemitismus intensiviert. Dieser Aspekt ist kaum bekannt.

Am 5. Mai 2002 besiegte Jacques Chirac Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl und wurde als Präsident für eine zweite Amtszeit bestätigt. Bei den nachfolgenden Parlamentswahlen erzielte Chiracs Partei UMP eine komfortable Mehrheit. Kurz nach seiner Wiederwahl bekam ich einen Anruf vom Büro des Premierministers: »Wir möchten mit Ihnen reden.« Der erste Punkt unseres Gesprächs drehte sich um die Zahl der antisemitischen Vorfälle. Der sozialistische Innenminister hatte zuvor die Tendenz gehabt, die Zahlen in den Statistiken eher klein zu halten.

TREFFEN Doch mit Chiracs neuem Premierminister Jean-Pierre Raffarin und Innenminister Nicolas Sarkozy sowie weiteren zuständigen Ministern einigten wir uns schnell auf eine gemeinsame Methodik, was die Erfassung von judenfeindlichen Straftaten angeht. Es gab von nun an regelmäßige Arbeitstreffen; der Kampf gegen den Antisemitismus wurde von Seiten der neuen Regierung intensiviert, Mittel bereitgestellt und die Sicherheit jüdischer Einrichtungen verbessert.

Dieser Aspekt von Chiracs Präsidentschaft ist nur wenig bekannt, doch ich finde, er verdient es, angemessen gewürdigt zu werden. Natürlich – und das ist die andere Seite der Medaille – ist der Antisemitismus nicht zurückgegangen, im Gegenteil.

* * *

Durchwachsen waren unter Chiracs Präsidentschaft auch die Beziehungen zu Israel. Chirac führte die von Charles de Gaulle begründete pro-arabische Außenpolitik fort. Er war es, der Saddam Hussein jenen Atomreaktor verkauft hatte, welcher 1981 bei einem israelischen Luftangriff zerstört wurde. Chirac war auch eng mit Jassir Arafat, der ihn mit »Doktor Chirac« anredete. Die Ironie des Ganzen: Arafat starb später ausgerechnet in einem Pariser Krankenhaus.

Chirac hatte Saddam Hussein jenen Atomreaktor verkauft, den 1981 bei einem israelischen Luftangriff zerstörte.

JERUSALEM In Erinnerung bleibt sicherlich auch die turbulente Reise Chiracs nach Israel im Jahr 1996, als es zu einem Zwischenfall mit israelischen Sicherheitskräften in der Jerusalemer Altstadt kam. Dennoch empfing Präsident Chirac seinen israelischen Amtskollegen Mosche Katsav in Paris mit allen Ehren. Und gemeinsam mit Ariel Scharon, der während Chiracs Amtszeit israelischer Ministerpräsident war, rief er die »Fondation France-Israël« ins Leben. Die Stiftung hat den Auftrag, das Kennenlernen zwischen Franzosen und Israelis zu verbessern. Ich hatte die Ehre, als eines der Gründungsmitglieder im Stiftungsrat einzusitzen.

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Eine sehr persönliche Bemerkung zum Schluss: Als mich Jacques Chirac im Elysée mit der Légion d’Honneur, dem Verdienstorden der Republik, ausgezeichnete, fiel mir seine Menschlichkeit und seine Zugänglichkeit auf. Er nahm sich die Zeit, mit allen Gästen zu reden, auch mit meinen Eltern, und das, obwohl er immerhin Staatschef eines der wichtigsten Länder der Erde war und einen vollen Terminkalender hatte. Die Erinnerungen an Chirac mögen vielfältiger Natur sein, aber eines kann man auf jeden Fall sagen: Er war ein Menschenfreund, und er strahlte unbändige Lebensfreude aus.

Haïm Musicant ist Journalist und Autor. Lange Jahre war er Geschäftsführer des jüdischen Dachverbandes CRIF. Heute ist er Vizepräsident von B’nai B’rith Frankreich.

Übersetzung: Michael Thaidigsmann

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