Russland

Im Berliner Exil

Der Oppositionelle Leonid Gosman hat in Deutschland eine vorübergehende Heimat gefunden

von Polina Kantor  10.07.2023 17:19 Uhr

»Ich bin ein unabhängiger Mensch«: Leonid Gosman (73) Foto: Rolf Walter

Der Oppositionelle Leonid Gosman hat in Deutschland eine vorübergehende Heimat gefunden

von Polina Kantor  10.07.2023 17:19 Uhr

Leonid Gosman wäre eigentlich lieber zu Hause in Moskau. Im gutbürgerlichen Westen Berlins verfügt der wortgewandte Intellektuelle, Publizist und Politiker über ein eigenes Domizil. Seine Familie hat sich in der deutschen Hauptstadt niedergelassen, aber auch andere Teile Deutschlands sind ihm wohl vertraut. Bei ausgiebigen Reisen mit dem Auto quer durchs Land hat er sich im Laufe der Jahre als Tourist ein Bild von etlichen Sehenswürdigkeiten gemacht.

Nach Berlin aber hat es den heute 72-Jährigen nicht als Tourist verschlagen. Im vergangenen Sommer sah er sich gezwungen, Russland zu verlassen. »Ich hatte nie vor, zu emigrieren oder im Gefängnis zu sitzen – und trotzdem kam es so weit.«

HERKUNFT 1950 in eine jüdische Familie geboren, wuchs Leonid Jakowlewitsch Gosman im Leningrad der Nachkriegszeit auf. Sein Vater überlebte den Zweiten Weltkrieg an der Front, dessen Vater die Leningrader Blockade, der Großvater mütterlicherseits wiederum war als Angehöriger der Volksmiliz in die Verteidigung Moskaus eingebunden.

Noch zu Schulzeiten wurde Leonid Gosman deutlich vor Augen geführt, was es hieß, als Jude Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Er sagt, er habe zwei Optionen gehabt: Rückzug, also gar nicht erst zu versuchen, sich zu beweisen, oder aber qua Willenskraft den Sprung nach vorn zu wagen. Gosman beschloss, den zweiten Weg zu beschreiten: besser als andere zu sein. Der Erfolg gab ihm recht.

Dass er aus seiner jüdischen Identität Kraft schöpfen kann, wurde ihm im Alter von 17 Jahren bewusst. Damals, nach Israels Triumph im Sechstagekrieg, besuchte er in Leningrad erstmals in seinem Leben eine Synagoge, wo er eine regelrechte politische Kundgebung antraf. Die Veranstaltung hallte lange in ihm nach. Der junge Leonid verstand auf einen Schlag, dass jüdisch zu sein einem Menschen Verpflichtungen auferlegt und er sich Schwächegefühle nicht erlauben könne.

2014 unterzeichnete er einen Aufruf gegen die Annexion der Krim.

Zunächst gelang es ihm, sich am Leningrader Polytechnischen Institut an der Fakultät für Physik und Mechanik zu immatrikulieren. Von diesen Fächern hatte er nach dreieinhalb Jahren genug und nahm stattdessen ein Psychologiestudium auf. Dass ihm dies gelang, grenzte im Sowjetsozialismus des Jahres 1971 an ein Wunder.

hürden Anders ausgedrückt: Er ließ sich von formalen Hürden und ungeschriebenen Regeln nicht abschrecken und schaffte es mit dieser Haltung, als einziger jüdischer Student in das begehrte Studienfach an der Leningrader Uni, eine der renommiertesten Hochschulen des Landes, aufgenommen zu werden. Ausländern wurde er als Vorzeigejude präsentiert. Tatsächlich war der Antisemitismus in Leningrad weitaus stärker ausgeprägt als in Moskau.

So reichte ein Einser-Diplom nicht aus, um später weiterzukommen.
Auf Empfehlung seiner Dozenten zog er in die sowjetische Hauptstadt um, wo er nach Beendigung des Studiums seine erste Arbeitsstelle in einem Labor an der Universität antrat. So wie heute wählte Gosman schon damals seinen Wohnort nicht aus freien Stücken. Dafür traf er mit seiner Berufswahl ins Schwarze. Er arbeitete als Uni-Dozent und fand nebenher aber auch Zeit, Bücher zu schreiben.

Psychologie sei eine Weltanschauung, sagt Gosman. »Ich habe mich schon immer als Psychologe gefühlt, aber ich bin ein Psychologe, den es in die Politik verschlagen hat.«

Auf die Frage nach dem Warum verweist er auf das Einsetzen großer Veränderungen Ende der 80er-Jahre in der So­wjetunion. »Es ist ein Verbrechen, wenn man in einem solchen Land Psychologe ist und nicht versteht, was da vor sich geht.« Also besuchte er Kundgebungen, begann, über seine Eindrücke zu schreiben, und erhielt prompt von Jegor Gajdar persönlich ein Angebot, das er nicht abschlagen konnte. »Und so verwandelte ich mich innerhalb eines Tages von einem Dozenten der Moskauer Staatsuniversität in einen Berater des Premierministers einer Großmacht.« Da war die Sowjetunion bereits Geschichte.

LIBERALER Diese Entscheidung hat Leo­nid Gosman, überzeugter Liberaler, nie bereut. Im Gegenteil. Anders als so mancher seiner damaligen Wegbegleiter erlaubt er sich einen selbstkritischen Blick auf die damalige Zeit. Viele individuelle Patzer seien ihm unterlaufen, ob in Bezug auf Wahlkampfbelange, aber auch auf andere Bereiche.

Weitaus schwerwiegender ins Gewicht fielen jedoch die Verfehlungen des Teams an sich, für die sich Gosman ebenfalls einen Teil der Verantwortung zuschreibt. Gemeint sind Fehleinschätzungen der Bedeutung der lokalen Selbstverwaltung in einem hochzentralisierten Machtapparat. Und auch die sozial-ökonomische Politik sei alles andere als zufriedenstellend gelaufen.

Das Grundproblem: Gajdars Team betrachtete sich damals nicht als Bündnispartner des einst als aufrechter Demokrat angetretenen ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin, sondern als Teil von dessen Stab. Anstatt auf Augenhöhe Vereinbarungen auszuhandeln, befolgte die Beratergruppe um Gajdar Jelzins Anweisungen.

präsidentschaftswahlen Das galt auch für die Präsidentschaftswahlen 1996, bei der nicht wenige Vertreter des demokratischen Lagers liebend gerne Boris Nemzow den Vorzug eingeräumt hätten. »Wären wir als Bündnispartner aufgetreten, hätten wir diese Position womöglich durchsetzen können«, resümiert Gosman. Aber damals setzte sich die Ansicht durch, alle müssten zugunsten Jelzins zusammenhalten. Nur beim Tschetschenienkrieg, den Gosman und viele seiner Mitstreiter massiv verurteilten, verlor dieses Credo an Geltung.

Nemzow wandelte sich später unter Wladimir Putin zum exponiertesten russischen Oppositionellen und wurde im Februar 2015 nahe des Kremls erschossen.

Ein Versagen der ersten Generation demokratischer Kräfte mit Regierungsverantwortung, und damit auch sein eigenes, sieht Gosman vor allem in der gescheiterten Kommunikation mit der Intelligenzija. Sie galt Anfang der 90er-Jahre als Stütze der liberalen Reformen, aber bereits nach wenigen Monaten fiel dieser Rückhalt weg.

Gosman bekam dies an seinem Arbeitsplatz unmittelbar zu spüren. »Formal verblieb ich an meinem Lehrstuhl, wo mir meine Kollegen mit allen Kräften den Rücken freihielten, aber schon nach einem halben Jahr war das nicht mehr so«, erinnert er sich.

Man hätte die Loyalität der Intelligenzija erhalten können, doch dafür hätte der Dialog aufrechterhalten und die Position der Regierung besser erklärt werden müssen. In etwa so, wie es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Beginn des russischen Angriffskrieges praktiziere.

DUMA-WAHLEN Leonid Gosman spielte eine führende Rolle bei der Partei »Demokratische Wahl Russlands« und trat 1995 bei den Duma-Wahlen an. Später prägte er neben anderen Politikern das Profil der Parteien »Union der rechten Kräfte« und »Rechte Sache«. Die Parteien wechselten ihre Namen, verschwanden jedoch nach Putins Machtantritt zunehmend in der Bedeutungslosigkeit.

Gosmans Karriere war trotzdem nicht zu Ende. Er arbeitete als Berater des damaligen Vorstandsvorsitzenden des russischen Energiekonzerns RAO UES, Anatolij Tschubais, und gehörte ab 2000 acht Jahre lang dessen Vorstand an. Damals schien ihm die Kooperation mit staatlichen Strukturen existenzielle Voraussetzung für Veränderungen in Russland zu sein.

In Fernsehdebatten und als Autor trat er weiterhin vor einem politikinteressierten Publikum auf. Doch je mehr autoritäre Züge die russische Staatsführung entwickelte, desto weniger politischer Spielraum blieb ihm.

annexion 2014 gehörte Gosman zu den Unterzeichnern eines Aufrufs gegen die russische Annexion der Krim, und wie Jahrzehnte zuvor beteiligte er sich erneut an Demonstrationen und Kundgebungen – nicht als Veranstalter, sondern als verantwortungsbewusste Einzelperson. »Man kann selbst ein Risiko eingehen, aber man darf andere nicht hineinziehen«, ist er überzeugt.

Risiko ja, aber keine Selbstaufopferung. Im August 2022 verdammten ihn die Behörden zu einer 15-tägigen Haftstrafe, die um weitere 15 Tage verlängert wurde. Nicht Gosmans Haltung gegen den Krieg in der Ukraine diente den Behörden als formaler Anlass, sondern historische Vergleiche, die er Jahre zuvor formuliert hatte. Die Ansicht, dass Stalin schlimmer sei als Hitler, gilt in Russland nicht als persönliche Meinungsäußerung, sondern als Politikum.

Sein Verbleib in Russland war nur noch auf einer Gefängnispritsche vorgesehen.

Doch nicht die Haftbegründung war entscheidend, sondern der unzweideutige Wink, dass ein Verbleib in Russland für den unliebsamen Oppositionellen nur noch auf einer Gefängnispritsche vorgesehen war.

Angesichts seines Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit wäre das fast schon einem Todesurteil gleichgekommen. Deshalb nutzte Leonid Gosman den Augenblick seiner Freilassung, um sofort und noch in der Nacht nach Israel auszureisen. Der Plan hätte auch scheitern können.

staatsanwaltschaft Zwar intervenierte die Staatsanwaltschaft, aber auf die Schnelle stand nach Kenntnis von Gosman keiner der in einem solchen Fall befugten hochrangigen Entscheidungsträger zur Verfügung. »Sie haben es schlicht nicht gewagt, einen von ihnen nachts aus dem Bett zu klingeln«, sagt Gosman. Und so gelang ihm die Ausreise.

Eine längere Haft hätte er genutzt, um Bücher zu schreiben, erzählt er. In Freiheit bleibt ihm dafür keine Zeit. Er ist nach wie vor ein überaus gefragter Veranstaltungsgast und Gesprächspartner. Sonntags läuft seine Sendung Menschliche Dimension auf YouTube, und seine regelmäßige Kolumne für die »Nowaja Gaseta Europa« gehört zu den meistgelesenen Texten der russischen Oppositionszeitung.

Er sähe seine Aufgabe nicht darin, auf irgendetwas oder irgendjemanden Einfluss zu nehmen, sagt er. Doch manchmal wirken seine Kolumnen auf Außenstehende so, als seien sie mit therapeutischer Intention verfasst.
Der Aufstand des vom Kreml über viele Jahre mit delikaten Aufgaben beauftragten Chefs der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, wird weitreichende Auswirkungen haben und die Macht von Wladimir Putin schwächen, da ist sich Leonid Gosman sicher. Er bezeichnete das Ereignis als »Symptom einer tiefgreifenden Krise«.

Ob es ihn zurück in die große Politik ziehen würde, sollte es in Russland wieder Raum für einen offen ausgetragenen politischen Wettstreit geben? Nein, lautet Gosmans klares Statement. Er sei durchaus zufrieden mit seiner Rolle in den vergangenen Jahren. Daran habe auch das erzwungene Exil nichts geändert. »Ich bin ein unabhängiger Mensch.« Als solcher würde er gern seine Tochter in Berlin besuchen. Leben allerdings würden er und seine Frau lieber in Moskau. »Wir hoffen sehr darauf, zurückzukehren.«

Jom Haschoa

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