Ungarn

»Ich möchte nicht, dass Hass meine Seele beschmutzt«

Zum Tod der Schoa-Überlebenden und Zeitzeugin Éva Fahidi-Pusztai. Ein Nachruf

von György Polgár  14.09.2023 15:02 Uhr

Éva Fahidi-Pusztai (1925–2023) Foto: © Uwe Steinert

Zum Tod der Schoa-Überlebenden und Zeitzeugin Éva Fahidi-Pusztai. Ein Nachruf

von György Polgár  14.09.2023 15:02 Uhr

Die Zahl der Schoa-Zeitzeugen schwindet. Am Montag starb im Alter von 97 Jahren eine der prominentesten von ihnen, die Ungarin Éva Fahidi-Pusztai. Sie glaubte fest an die Kraft der Erinnerung. »Ich denke, jeder Mensch, jedes Kind muss wissen, dass das, worüber es lernt, wirklich passiert ist. Denn wenn es einmal geschieht, kann es jederzeit wieder und wieder passieren«, warnte sie einmal in einem Interview mit dem Magazin »Forbes Hungary«.

Éva Fahidi-Pusztai wurde am 22. Oktober 1925 in der ostungarischen Stadt Debrecen in eine wohlhabende Familie geboren. Sie lernte Sprachen, trieb Sport, träumte davon, einmal eine große Pianistin zu werden. Aus dieser heilen Welt wurde sie herausgerissen, als die Wehrmacht im Frühjahr 1944 das Land besetzte und deren ungarische Handlanger die Juden in Ghettos sperrten, um sie binnen kürzester Zeit nach Auschwitz zu deportieren.

verlust Dass die Familie Jahre zuvor zum Katholizismus konvertiert war, half ihr nicht. Éva Fahidi-Pusztai war 18 Jahre alt, als sie nach Auschwitz verschleppt wurde. Ihre Mutter und die elfjährige Schwester wurden unmittelbar nach der Ankunft in die Gaskammer geschickt, der Vater starb im Lager. Die ganze Großfamilie – 49 Menschen – wurde ermordet. »Meine Jugend endete an der Rampe«, sagte Éva Fahidi-Pusztai einmal.

Von Auschwitz wurde sie ins Außenlager Münchmühle des KZ Buchenwald gebracht, wo sie in einer Sprengstofffabrik schuften musste. Gegen Ende des Krieges entkam sie einem Todesmarsch und wurde einige Tage später von amerikanischen Soldaten in einem Versteck gefunden.

Wie die meisten ihrer Leidensgenossen, sprach auch Fahidi-Pusztai jahrzehntelang nicht über das Erlebte. Im kommunistischen Ungarn war die Erinnerung an den Holocaust unerwünscht.

1990 las sie einen Aufruf in einer Zeitung. Es wurden Frauen gesucht, die im KZ Münchmühle Zwangsarbeit verrichten mussten. Fahidi-Pusztai überwand sich und meldete sich. Mit 65 reiste sie ins Land der Täter. Der Respekt, der ihr entgegengebracht wurde, änderte ihre Zurückhaltung.

Aktivistin Als sie 2003 die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zum ersten Mal besuchte, beschloss sie, sich für die Aufarbeitung der Grausamkeiten zu engagieren. Kurz danach erschien ihre Autobiografie Die Seele der Dinge – zuerst auf Deutsch. Schnell wurde Fahidi-Pusztai zu einer Aktivistin. Sie schrieb weitere Bücher, gab Interviews, trat als erzählende Zeitzeugin in Schulen auf, mahnte vor rechtsextremer Gewalt und den Gefahren des Rechtspopulismus.

Im hohen Alter fing sie an, in sozialen Medien zu posten. An ihrem 90. Geburtstag fand die Uraufführung des von ihr persönlich vorgetragenen Tanzstücks Strandflieder oder Die Euphorie des Seins statt, in dem sie ihre Geschichte in einer ungewöhnlichen Form darstellte. Das Stück wurde zu einem großen Erfolg.

Immer wieder kam Éva Fahidi-Pusztai nach Deutschland, um auch hier, in ihrem fehlerfreien Deutsch, das Gespräch mit jungen Menschen zu suchen. 2015 hielt sie vor dem Deutschen Bundestag eine bewegende Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Oft war sie Gast im Thüringer Landtag. Sie wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, war Ehrenbürgerin von Weimar und Stadtallendorf in Hessen.

Ohne Hass In einem Interview mit der ungarischen Zeitschrift »HVG« antwortete sie auf die Frage, wie sie imstande sei, nach ihren Erfahrungen niemanden zu beschuldigen: Wenn sie schon lebe, dann möchte sie nicht unglücklich sein. »Und ich möchte auch nicht, dass Hass meine Seele beschmutzt, denn wenn jemand, dann bin ich es, die weiß, dass das die niederträchtigste Gesinnung ist, die es gibt.«

Éva Fahidi-Pusztai hat ihre unendlich schmerzhafte Geschichte fortwährend erzählt, damit sie sich nicht wiederholt. Sie zeigte vielen Menschen, dass aus Verzweiflung Hoffnung entstehen kann, dass Hass nirgendwohin führt und dass Licht die Dunkelheit besiegen kann. Die jüdische Welt trauert um diese außergewöhnliche Frau, lobt ihren Lebensmut und feiert ihr spätes Lebenswerk.

Möge ihr Andenken zum Segen sein – Jehi sichrona livracha!

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