Dieses Denkmal ist für ihn kein Gedenkort. Und daher, sagt Semjon Gluzman höflich, aber bestimmt, wolle er auch nicht näher hingehen und Andacht halten. Gluzman ist 64 Jahre alt, ein kleiner, beleibter Mann mit kariertem Hemd, sein Vollbart leuchtet weiß in der Sonne. Er ist Psychiater und ein Intellektueller, der sich in der Ukraine regelmäßig publizistisch zu Wort meldet. Er tat dies schon, als das freie Wort noch gefährlich werden konnte.
Heldensymbolik Gluzman möchte auf Distanz bleiben zu den Betonschichten und dem Berg aus schwarzer Bronze, der da mitten in einem Park im Westen Kiews steht, unweit von Babi Jar. Mitte der 70er-Jahre ließen die Kommunisten in der Nähe der Schlucht, in der an zwei Septembertagen im Jahr 1941 mehr als 33.000 Menschen im Maschinengewehrfeuer der SS starben, ein Denkmal für die Toten errichten.
»Ein grausames, pathologisches Denkmal«, findet Gluzman, ein »Symbol des totalitären Systems« nennt er es und blickt missbilligend auf das martialische Figurenensemble. Menschen sind zu sehen, die vom Boden emporklettern, Heldensymbolik. Doch in Babi Jar gab es keine Helden. Es gab nur ein paar wenige, die mit dem Leben davonkamen. In der Inschrift ist die Rede von den »Bürgern der Stadt«, die hier unter der nationalsozialistischen deutschen Besatzung den Tod fanden. Dass die Opfer mehrheitlich Juden waren, wird mit keinem Wort erwähnt.
Gluzman erinnert sich daran, wie ihm sein Vater einmal sagte: »Stalin war schrecklicher als Hitler« – ein Urteil über die Diktatoren des 20. Jahrhunderts, das man in der Ukraine sonst eher von Nichtjuden hört. Wie zur Bekräftigung fügt Gluzman hinzu, dass sein Vater sogar Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei. Doch anders als mancher Ukrainer, der den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 als Versuch der Befreiung von der Sowjetherrschaft erlebte, hat Gluzman selbst Opfer zu beklagen: Sein Großvater wurde in Babi Jar ermordet.
Propaganda Gluzman hat erlebt, wozu die Sowjetmacht fähig war: 1972, er war 25 Jahre alt, wurde er verhaftet und in ein Arbeitslager im Ural gesteckt. Die offizielle Begründung lautete: antisowjetische Propaganda. Er habe Samisdat-Schriften von Heinrich Böll und Vasilij Grossman verteilt.
Ein Allerweltsvorwurf, zumindest für einen schon damals recht bekannten Dissidenten wie Gluzman. Der eigentliche Grund war ein in Ungnade gefallener und in die Psychiatrie abgeschobener KGB-Offizier. Gluzman, kaum zwei Jahre in einem Provinzkrankenhaus tätig, hatte ein Attest geschrieben, das der offiziellen Version widersprach.
Heute spricht Gluzman über seine sieben Jahre im Gulag ohne Verbitterung. »Abgesehen vom Kerker«, sagt er, »habe ich das dort alles mit großem Interesse erlebt. Es war eine Zeit der inneren Freiheit. Man konnte jedem Diensthabenden sagen, was man so dachte. Er dachte vielleicht dasselbe, musste aber schweigen.«
Ein paar Jahre zuvor hatte ihm sein Mentor an der Universität noch den Rat mitgegeben, er solle die Finger von der Psychiatrie lassen: »Du weißt nicht, wie unsere Psychiatrie aussieht.« Doch Gluzman wollte, wie er sagt, »Fürsprecher« der Kranken sein. Er wollte sich nicht davon abschrecken lassen, dass die sozialistische Medizin die Seelenkranken kollektiv als »Schizophrene« abtat, sie in Zwinger sperrte und mit Medikamenten ruhigstellte.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion 1991 durfte Gluzman wieder als Arzt arbeiten. Er ist Vorsitzender der unabhängigen Psychiatervereinigung und hat einen umfangreichen Band mitherausgegeben, der die Geschichte von Babi Jar dokumentiert. Die Traumata des 20. Jahrhunderts säßen tief in der Ukraine, sagt Gluzman, sie seien kaum aufgearbeitet. Gluzman setzt auf die junge Generation. In den nächsten 20 Jahren werde es Ergebnisse geben, hofft er.