Eurovision Song Contest

Getrübte Stimmung

Irgendwann im Winter war Chris den Hoedt (53) klar, dass es auch diesmal nichts wird: Seine Gemeinde, die Nederlands-Israëlitisch Gemeente Rotterdam (NIG), wird keine Anlaufstelle für jüdische Besucher aus aller Welt sein. Auch der Plan mit der Schlafplatzbörse fällt dem Coronavirus zum Opfer. Und natürlich lässt sich unter diesen Umständen auch kein geselliger Abend mit Essen und Musik organisieren.

Doch am Samstagabend, nach Ausgang des Schabbats, werden viele in der Gemeinde gemeinsam das Finale des Eurovision Song Contest (ESC) anschauen, der in ihrer Stadt stattfindet.

öffnung Auch als Ende April bekannt wurde, dass bei den Shows in begrenzter Zahl Publikum zugelassen wird, so wie das derzeit im Rahmen eines Konzepts vorsichtiger Öffnung in den Niederlanden praktiziert wird, änderte das nichts am Entschluss der Gemeinde: »Wir organisieren wirklich nichts. Ein solches Risiko wollen wir nicht in Kauf nehmen«, so Chris den Hoedt, der Gemeindevorsitzende.

Nun werden also in den jüdischen Haushalten getrennt die Daumen gedrückt: für den 27-jährigen Jeangu Macrooy, der die Niederlande vertritt, und die 20-jährige Eden Alene aus Israel.

Unterdessen macht sich auch in Rotter­dam der Terror im Nahen Osten bemerkbar: Vergangene Woche organisierte die nach eigener Aussage »islamisch inspirierte« Partei NIDA eine Demonstration im Stadtzentrum, bei der auch der als Hamas-Spendensammler bekannte Amin Abou auf der Bühne stand. Es ertönten »Allahu akbar«-Sprechchöre, und Passanten wurden bespuckt. »Aktivisten« verteilen dieser Tage auch am Austragungsort des Songfestivals Flugblätter. Gemeindechef den Hoedt berichtet von zunehmender Besorgnis unter jüdischen Rotterdamern. »Diese Sorge habe ich in der Gemeinschaft noch nie so erfahren wie jetzt.«

GASTGEBER Mit ihren rund 5000 Mitgliedern ist die NIG die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Land – und so vielfältig, wie es sich für eine Hafenstadt gehört: »Israelis, Osteuropäer, Lateinamerikaner, Niederländer«, sagt den Hoedt. Die Hintergründe seien unterschiedlich: »primär aschkenasisch, aber auch sefardisch, nordafrikanisch.«

Die Gemeinschaft ist vielfältig: aschkenasich, sefardisch, nordafrikanisch.

Vor der Schoa lebten in Rotterdam rund 13.000 Juden, heute fällt auf, dass es vor allem mehr Monumente gibt als aktive Infrastruktur. Da ist keine jüdische Schule, kein koscherer Bäcker oder Supermarkt, wohl aber das Deportationsdenkmal »Loods 24« im Hafen oder das Kindermonument im Süden der Stadt. Das frühere jüdische Viertel im Zentrum Rotterdams fiel 1940 den deutschen Bomben zum Opfer. Weitere Spuren des alten jüdischen Lebens verschwanden in den Jahrzehnten nach dem Krieg durch die Stadtentwicklung.

Im Kontrast zu all dem steht die Aufbruchsstimmung in der NIG. »Wir haben den jüngsten Gemeindevorstand im ganzen Land. Manche von uns sind noch in den 20ern«, berichtet den Hoedt. »Wir waren gerade in einer neuen Phase, bevor Corona kam. Wir hatten eine Sonntagsschule eingerichtet, unser Fokus liegt nicht nur auf Gottesdiensten, sondern auch auf sozialem und kulturellem Programm. Wir haben sehr viel Energie, um langfristig neue Pläne für die jüdische Gemeinschaft zu entwickeln.«

Sefarden Eine spürbare Aufbruchsstimmung herrscht auch bei den Rotterdamer Sefarden. In den vergangenen Jahren gibt es in diesem Teil der jüdischen Gemeinschaft mehrere neue Initiativen. Wer sich dort umsieht, trifft schnell auf Meïr Villegas Henriquez. Eigentlich ist er Mitglied der NIG und darüber hinaus auch noch der Portugiesischen Gemeinde in Amsterdam, doch vor allem liegt ihm das sefardische Leben in seiner Stadt am Herzen. »Die NIG ist eine aschkenasische Gemeinde«, sagt er. Das sei eine »schöne, alte niederländische Tradition, aber wir möchten auch die sefardische wieder zum Leben erwecken«.

So gibt es seit acht Jahren Ohel Abraham, »ein Lehrhaus für alle«, wo im Sinne des biblischen Vorbilds Abraham jüdisches Wissen an alle weitergegeben werde, so Villegas Henriquez. Auch Nichtjuden mit Interesse an der Tora kämen hierher, oder Menschen, die ihre eigenen jüdischen Wurzeln erst entdeckt haben oder konvertieren möchten.

In demselben Gebäude im Stadtzentrum kommt auch Beet Tefila zusammen, keine offizielle Gemeinde, aber ein sefardischer Minjan. Beide Initiativen sollen an die Tradition der Hafenstadt anschließen, wo sich im frühen 17. Jahrhundert die ersten sefardischen Kaufleute niederließen. Villegas Henriquez’ Biografie ist ein klassisches Beispiel: geboren und aufgewachsen in Rotterdam, doch durch seinen chilenischen Vater sefardisch geprägt.

einwanderung Was ihn umtreibt, erschließt nicht zuletzt ein Blick auf die Demografie der Stadt: Seit jeher gibt es eine starke Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien der Niederlande in Amerika. »Es gibt hier viele Menschen aus Curaçao, von den Antillen, aus Suriname, aber auch aus Lateinamerika und von den Kapverden. Und da trifft man häufig auf Namen wie Araujo, der auch unter Sefarden verbreitet ist. Es gibt also offenbar mehr Rotterdamer mit jüdischen Wurzeln, als man denkt.«

Meïr Villegas Henriquez’ Energie beschränkt sich nicht auf das sefardische Judentum: Derzeit hilft er dabei, eine Plattform für jüdische Jugendliche zu gründen. Sie soll dazu beitragen, in der Stadt einen festen Treffpunkt zu errichten, ein Café oder eine soziale, kulturelle Anlaufstelle für junge Juden zwischen 18 und 35. Villegas Henriquez, der dieser Zielgruppe mit 41 Jahren schon entwachsen ist, hofft, dass man bald nach der Pandemie einen Vorstand zusammenstellen kann, ein paar Interessierte gebe es schon.

Profitieren könnte der neue jüdische Schwung in Rotterdam von der Lage der Stadt zwischen den Zentren Antwerpen und Amsterdam.

Profitieren könnte der neue jüdische Schwung in Rotterdam von der Lage der Stadt zwischen den Zentren Antwerpen und Amsterdam. »In Antwerpen suchen die Leute Arbeit. Wir haben welche. In Amsterdam suchen sie bezahlbaren Wohnraum. Auch den haben wir. Das hat Potenzial«, so Villegas. »Das jüdische Rotterdam entstand durch Leute, die aus Antwerpen flüchteten. Manche zogen nach Amsterdam weiter. Diese Linie hat 400 Jahre Tradition, und sie wird weiter bestehen.«

REISEKLUB Seit einem halben Jahrhundert bildet auch die Liberaal Joodse Gemeente einen wichtigen Teil des jüdischen Lebens in der Stadt. Im Dezember 2019 konnte das 50-jährige Bestehen noch groß gefeiert werden – als eines der letzten Ereignisse, bevor die Pandemie das soziale Leben einfror. »Natürlich finden auch unsere Gottesdienste inzwischen auf Zoom statt«, berichtet Louis Pollack, der nicht nur die Vorbereitungen des Jubiläums koordinierte, sondern sich in der Gemeinde um Mitgliederkontakte kümmert und den Reiseklub leitet, der einmal im Jahr zusammen unterwegs ist.

Was seine Gemeinde ausmacht, sei nicht nur der Zusammenhalt, sagt Pollack, sondern auch die aktive, zupackende Mentalität – typisch Rotterdam eben. »Wir begannen mit nichts, trafen uns in den ersten Jahren an verschiedenen Orten, dann überließ uns die Stadt ein Gebäude für den symbolischen Preis von einem Gulden. Als wir das zu unserer Synagoge ausbauten, haben alle mit angepackt. Wir sammelten Geld ein, kauften Bänke aus anderen Synagogen und installierten sie bei uns. So viel persönlicher Einsatz hält eine Gemeinde am Leben!«

Ebenso wie die NIG hat auch die liberale Gemeinde alle Aktivitäten zum Songfestival abgesagt. Louis Pollack betont, dass andere Ereignisse in diesem Frühjahr ebenfalls nicht stattfinden können – etwa die Besuche einst verwundeter israelischer Soldaten in Den Haag und Rotterdam, die von der B’nai-B’rith-Loge Hollandia regelmäßig organisiert werden. Die Israelis werden an der Nordsee bei Familien, die Hebräisch sprechen, untergebracht und nehmen an einem Besucherprogramm teil. »Enorm verbindend«, so beschreibt Pollack das. »Aber vorläufig ist alles auf Sparflamme.«

mitglieder Pollack wünscht sich, dass es mehr junge Mitglieder in seiner Gemeinde gäbe, die bislang 120 Familien zählt. Womöglich zeigt dies gerade den Bedarf an einer Initiative wie der Plattform Jugendlicher, die Meïr Villegas Henriquez anstrebt.

In den Niederlanden jedenfalls gilt Rotterdam als Boomtown, wo anders als im festgefahrenen Amsterdam die Dinge schnell geschehen und es Raum für neue Initiativen gibt – eine Dynamik, die sich durchaus in den jüdischen Teilen der Stadt widerspiegelt.

Trotz seiner 79 Jahre steht auch Louis Pollack für diesen Aufbruch. Vor vier Jahren erst zog er sich aus seinem Betrieb zurück, der in Industrieanlagen Brandschutzverkleidungen anbringt. Seitdem engagiert sich Pollack für seine Gemeinde: »Damit ich nicht nur hinter den Geranien sitze«, sagt er selbstironisch mit Rotterdamer Akzent.

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