Ukraine

Gespaltene Gemeinschaft

Kiew im Januar 2017: Feierlichkeiten zum 108. Geburtstag des umstrittenen Nationalisten Stepan Bandera Foto: Getty Images

Es war ein Auftritt, der bis heute hitzige Debatten in der Ukraine auslöst: Im September 2016 war Israels Staatspräsident Reuven Rivlin in die Hauptstadt Kiew geflogen, um dort an den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Massakers in Babi Jar teilzunehmen.

Dazu gehörte auch der Auftritt Rivlins vor dem Parlament, der Werchowna Rada, in dem er die Verantwortlichkeit der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) für den Massenmord ansprach: »Wir müssen offen sagen, dass viele der Handlanger dieser Verbrechen Ukrainer waren. Besonders muss man dabei die Kämpfer der OUN erwähnen, die Juden getötet oder auch an die Deutschen ausgeliefert haben. Gleichzeitig gab es rund 2500 ›Gerechte unter den Völkern‹, leuchtende Beispiele in finsterer Stunde der Menschheit.«

Die Rede des israelischen Präsidenten hatte in der Ukraine eine heftige öffentliche Debatte ausgelöst. Denn gerade die Geschichte der OUN sowie der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die als deren militärischer Flügel galt, gehört zu den sensibelsten Themen überhaupt.

Zum einen waren OUN und UPA die größte Unabhängigkeitsbewegung, die es in der Ukraine gab. Auf der anderen Seite waren die Ansichten von deren Anführern rechtsradikal – und Verbrechen wie die Teilnahme an den Erschießungen in Babi Jar, bei denen mehr als 30.000 Juden ermordet wurden, sind historisch unumstritten. Über die Bewertung ihrer Rolle gibt es keinen Konsens in der ukrainischen Gesellschaft: In der Westukraine hoch verehrt, werden sie anderswo deutlich kritischer gesehen.

institut Doch seit der Maidan-Revolution im Februar 2014 setzt auch das offizielle Kiew auf Wertschätzung. Dafür sorgt vor allem der umstrittene Historiker Wolodymyr Wjatrowytsch, dessen Fachgebiet die Geschichte der OUN ist. Er leitet das staatliche »Institut für nationales Gedenken«, das nach dem Maidan rasant an Bedeutung gewann und mittlerweile oft scherzhaft »Geschichtsministerium« genannt wird.

Der aus Lwiw stammende Historiker war eine der lautesten Stimmen, die Rivlin nach seiner Rede angriffen: »Leider hat der israelische Präsident den sowjetischen Mythos über die Teilnahme der OUN am Holocaust wiederholt.« Der heutige Vorsitzende der OUN, Bohdan Tscherwak, sagte, Rivlin habe mit seiner Rede damals »jedem Ukrainer in die Seele gespuckt«: »Herr Rivlin sollte bitteschön aufhören, sich russisches Fernsehen anzuschauen.«

Das Problem ist jedoch nicht allein die Kritik an der Rede des israelischen Präsidenten. Noch im April 2015 stimmte die Werchowna Rada über ein Gesetz ab, das das Gedenken an alle Teilnehmer des Kampfes für die ukrainische Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert vorschreibt, darunter auch für die UPA und deren umstrittenen Kommandeur Roman Schuchewytsch.

2016 wurde im Rahmen der sogenannten Dekommunisierung, in deren Verlauf sowjetische Denkmäler demontiert und Straßennamen geändert werden sollten, die Moskauer Straße in Kiew in Stepan-Bandera-Straße umbenannt – Bandera war der langjährige Anführer und Ideologe der OUN. Nun soll in Kiew auch die Straße des sowjetischen Generals Watunin in Roman-Schuchewytsch-Straße umbenannt werden – was für noch heftigeren Unmut sorgt.

zeitung Zu den größten Kritikern der aktuellen Geschichtspolitik gehört Eduard Dolynskij, Vorsitzender des Ukrainischen Jüdischen Komitees. »Ich glaube, es ist eine völlig falsche Richtung, in die sich die ganze Sache entwickelt«, betont er. »In der Ukraine sind 1,5 Millionen Juden umgebracht worden. Die Deutschen, die zum Beispiel in Kiew einmarschierten, sprachen kein Wort Russisch oder Ukrainisch. Die konnten nicht verstehen, wer Jude war und wer nicht. An dem Massaker von Babi Jar und an anderen Verbrechen hat ganz klar auch die lokale Bevölkerung teilgenommen.«

Dabei spricht Dolynskij unter anderem die Zeitung der OUN, »Ukrainisches Wort«, an: »Diese erschien am 2. Oktober, als die Babi-Jar-Tragödie in vollem Gange war, mit der Schlagzeile: ›Juden sind die größten Feinde der Ukraine‹. Das beantwortet alle Fragen, was die Teilnahme der OUN an dem Massaker von Babi Jar angeht.«

Für das Blatt hat unter anderem auch die ukrainische Schriftstellerin Olena Teliha gearbeitet. Seit 1993 trägt eine der wichtigsten Verkehrsadern Kiews, die direkt in Babi Jar liegt, ihren Namen. Teliha ist besonders umstritten, weil es Texte von ihr gab, in denen sie Adolf Hitler und seine Politik verehrte.

Teliha wurde wie andere ukrainische Nationalisten 1943 von den Deutschen umgebracht. Der Ort ihrer Erschießung ist bis heute unbekannt, allerdings glauben die meisten Historiker, dass es nicht Babi Jar war. Trotzdem hat der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko Anfang des Jahres ein großes Denkmal für Olena Teliha eröffnet – auch das finden die meisten Juden in der Ukraine schwierig.

fraktion Ganz im Gegensatz zu Josef Zissels: Der Vorsitzende der Vereinigung der jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine (Vaad), der zu Sowjetzeiten als Dissident und Menschenrechtler bekannt war, nimmt oft an Gesprächsrunden mit Wjatrowytsch teil und verteidigt zum Teil die offizielle ukrainische Linie.

»Es gibt kein Gericht in der Welt, dass OUN und UPA als Organisationen darstellt, die Verbrechen begangen haben«, betont Zissels. Ähnlich wie Wjatrowytsch kritisierte er Rivlins Rede vom vergangenen Jahr: »Ich will verstehen, ob das jetzt ein Altersding war oder ob sie sich vor Russland auszeichnen wollen. Aber ich kann diesen Auftritt auf keinen Fall nachvollziehen.«

So wird auch die jüdische Gemeinde in der Ukraine durch die Geschichtsfrage gespalten: Die große Mehrheit sieht die offizielle Linie zwar sehr kritisch, äußert sich aber nicht immer öffentlich. Gleichzeitig gibt es auch die von Zissels angeführte Fraktion, die ebenfalls nicht begeistert ist, aber bereit ist, mit Wjatrowytsch zusammenzuarbeiten. Wie sich diese Spaltung langfristig auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025

New York

ADL will Mamdani unter Beobachtung stellen

Die Anti-Defamation League erwartet vom neugewählten New York Bürgermeister nichts Gutes. Jetzt hat die jüdische Organisation angekündigt, man werde genau hinschauen

 05.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  05.11.2025 Aktualisiert

Essay

Mamdanis demokratische Steigbügelhalter

Führende Politiker der Demokraten haben aus Opportunismus die Wahl des Israel-Hassers Zohran Mamdani zum New Yorker Bürgermeister ermöglicht - und so in Kauf genommen, dass aus Worten gegen Israel wieder Gewalt gegen Juden werden könnte

von Menachem Z. Rosensaft  05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025