Island

Gesandte und Geysire

Seit Jahrzehnten ohne Synagoge und Rabbiner: Islands Hauptstadt Reykjavik Foto: imago

Eine halbe Stunde, nachdem der Rosch-Haschana-Gottesdienst beginnen sollte, fehlte der Gemeinde in dieser frostigen Stadt immer noch ein Mann, um den Minjan zu vervollständigen. Doch die kleine Gruppe von Auslandsjuden und ihren isländischen Ehepartnern verkürzte sich die Wartezeit mit Plaudern und beschwerte sich nicht. Was sind schon 30 Minuten für eine Gemeinde, die seit mehr als 60 Jahren wartet?

Nach Aussage von Gemeindemitgliedern waren die Rosch-Haschana-Gottesdienste mit Rabbiner und Torarolle seit Jahrzehnten die ersten in Reykjavik. Organisiert hatte sie ein 23-jähriger Chabad-Rabbiner, der seit sechs Monaten versucht, die jüdische Gemeinde in Island wiederzubeleben.

Die meisten Juden auf der Insel – es sind insgesamt um die 40 – wohnen in der Hauptstadt Reykjavik mit ihren rund 120.000 Einwohnern. Es gibt keine Synagoge hier, kein Gemeindezentrum, keine Organisationsstruktur. Das Judentum gehört in Island auch nicht zu den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften.

Bevor Rabbi Berel Pewzner sich im März entschloss, Kontakt mit den isländischen Juden aufzunehmen, hatte es dort viele Jahre lang keinen Rabbiner gegeben. Zuletzt wurden ab und zu Militär-Rabbiner auf die Insel gebracht, um für die jüdischen Soldaten auf dem NATO-Stützpunkt in Keflavik Gottesdienste zu leiten. Doch die Kaserne wurde 2006 geschlossen.

Erfolg Pewzner, der im April zwei Sederabende in Reykjavik geleitet hatte, kehrte zu den Hohen Feiertagen in die Stadt zurück. Der Erfolg der Sederabende hätte ihn bewogen weiterzumachen, sagt er. »Es war unglaublich, zu sehen, wie die Leute miteinander in Verbindung traten. Alle stimmten darin überein, dass wir mehr tun müssen.«

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Gemeinde Höhen und Tiefen erlebt. Vor etwa 15 Jahren war das Interesse stark genug, um eine Zeit lang am Schabbatmorgen Gottesdienste zu halten. Doch in den vergangenen Jahren wurde es schwieriger, auch nur an Feiertagen Zusammenkünfte zu organisieren. Sporadisch kam man zusammen zu einem Sederabend, zum Lichterzünden an Chanukka oder einer verspäteten Tu-Bischwat-Baumpflanzung im Sommer, nachdem der Boden aufgetaut war. Bei einer Reihe von symbolischen Barmizwas wurde eine Torarolle aus Papier verwendet. Dieses Mal hat der Chabad-Rabbiner eine echte mitgebracht.

Mike Levin, der aus Chicago stammt und seit 25 Jahren in Island lebt, meint, Chabad hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. »Wir waren an einem Punkt angelangt, wo tatsächlich nichts mehr ging. Es ist ein Segen, dass die Rabbiner hier sind.«

Die Gottesdienste an Rosch Haschana, bei denen an beiden Tagen ein Minjan zusammenkam, dauerten nur zwei Stunden. Sie waren auf ein Niveau heruntergeschraubt, das einer Gemeinde, deren Mitglieder größtenteils säkular ausgerichtet sind und wenig über die Feiertagsrituale wissen, entgegenkam.

Nordlicht Pewzner blies das Schofar und leitete den Gottesdienst zusammen mit Rabbi Berel Grunblatt, einem Freund aus Argentinien. Seine Predigt würzte er mit Verweisen auf isländische Besonderheiten wie das Nordlicht und erinnerte die Teilnehmer an die Bedeutung ihrer Zusammenkunft. »Wir haben die Chance, dieses Jahr zu einem historischen zu machen, nicht nur für uns selbst und unser persönliches Leben, sondern für die jüdische Gemeinde in Island.«

Er hoffe, sagt Pewzner, dass diese Gottesdienste den Anfang eines Prozesses markieren, an dessen Ende die dauerhafte Chabad-Präsenz in Island stehen wird. Darüber hinaus wollen er und Grunblatt in diesen Tagen alle ihnen bekannten Juden im Land persönlich aufsuchen. »Jeder Jude hier soll alles haben, was er braucht, um stolz auf seine Tradition zu blicken und seine Kinder darin zu erziehen«, sagt Pewzner.

Das könnte dazu führen, dass die Gemeinde die staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft beantragen wird. Dann kämen jüdische Institutionen in den Genuss von Steuergeldern. Man hofft, dass Islands Regierung eine Ausnahme macht, denn normalerweise müssen zu einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft mindestens 50 Mitglieder gehören. Und der Antrag muss von einem isländischen Staatsbürger unterstützt werden, der über 30 Jahre alt ist – eine Forderung, die keines der aktiven Mitglieder der Gemeinde erfüllt.

»Einer muss Präsident sein, und ich weiß nicht, ob die Leute gewillt sind, tatsächlich niederzuschreiben, dass sie jüdisch sind«, sagt Levin. »Ich werde mich als Jude registrieren lassen, aber ich will nicht der Einzige sein, der es tut.«

Bedürfnisse Der Israeli Daniel Harpaz und seine isländische Ehefrau Sigurlin Edda Andresdottir wollen dokumentieren, welche Supermärkte im Land koschere Lebensmittel führen. Harpaz möchte eine umfassende jüdische Reise-Website für Island aufbauen. Darüber hinaus versucht er, mit Hotels im Großraum von Reykjavik zusammenzuarbeiten, um sie der Idee, sich auf die Bedürfnisse religiöser jüdischer Touristen einzustellen, zugänglicher zu machen.

Sigal Har-Meshi, eine Israelin, die mit einem Isländer verheiratet ist und seit sieben Jahren im Land lebt, gehört zu denen, die seit Jahrzehnten wieder einen Rosch-Haschana-Gottesdienst besuchten. Als eine der Vertreterinnen der Gemeinde liegt es in ihrer Verantwortung, Pläne für die Feiertage abzustimmen und sicherzustellen, dass die Juden von Reykjavik nicht vereinsamen. »Es ist schwierig«, sagt sie, »ich muss die Leute anrufen und sie anflehen zu kommen, aber sie mögen das.« Doch trotz der Herausforderungen sei es etwas Besonderes, Teil einer so kleinen Gemeinde zu sein.

Interview

»Musik ist heilsam«

Der israelische Star-Mandolinist Avi Avital über seine neue Tournee, den Frühling und das intensivste Konzert seiner Karriere

von Nicole Dreyfus  20.03.2025

Jerusalem

Koscherstempel bei Antisemitismus-Konferenz?

Israels Diaspora-Minister Amichai Chikli hat auch europäische Rechtspopulisten eingeladen. Nun hagelt es Absagen und beißende Kritik

von Michael Thaidigsmann  18.03.2025

Antisemitismus-Bericht

Schweiz: »Wir haben einen Dammbruch erlebt«

Auch die Eidgenossenschaft erlebte im vergangenen Jahr einen sprunghaften Anstieg judenfeindlicher Vorfälle

von Michael Thaidigsmann  18.03.2025

Russland

Geschichte wird zugemacht

Das Ethnografische Museum in St. Petersburg schließt seine Ausstellung über jüdisches Leben im Zarenreich. Die Gründe sind vielfältiger als gedacht

von Polina Kantor  16.03.2025

Porträt

Klang des Lebens

Sie wurde gehörlos geboren und musste lernen, sich in der Welt der Hörenden zurechtzufinden. Darüber schrieb sie ein Buch, das zum Bestseller wurde. Eine Begegnung mit Fiona Bollag

von Nicole Dreyfus  15.03.2025

Brüssel

Früherer EJC-Chef Kantor von EU-Sanktionsliste gestrichen

Die Streichung des russisch-britischen Geschäftsmanns erfolgte offenbar auf Druck der ungarischen Regierung

 14.03.2025

Dänemark

Jüdin in Kopenhagen attackiert

Die Angreifer beschimpften sie antisemitisch und würgten ihr Opfer

 14.03.2025

Irak

Bericht: Israelisch-russische Geisel Elizabeth Tsurkov möglicherweise im Iran

Nachdem die USA im Fall der entführten Elizabeth Tsurkov den Druck auf den Irak erhöhen, heißt es, die Geisel wurde in den Iran verschleppt

 12.03.2025

Belgien

Fantasien über Mord an Juden fallen unter die Meinungsfreiheit

Entsetzen in der jüdischen Gemeinschaft: Ein Kolumnist wurde vom Vorwurf der Aufstachelung zur Gewalt gegen Juden freigesprochen

von Michael Thaidigsmann  12.03.2025