Italien

Gelassene Beobachterin

»Ich habe einen großen Respekt vor der Verfassung, und die Italiener haben gewählt«: Liliana Segre Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Liliana Segre war erst 13 Jahre alt, als sie vom unterirdischen Gleis 21 des Mailänder Hauptbahnhofs nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Anlässlich des 80. Jahrestags der Rassengesetze im Januar 2018 würdigte der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella ihr Engagement als Zeitzeugin und ernannte sie zur Senatorin auf Lebenszeit.

Sie hat wiederholt ihre Stimme inner- und außerhalb des Parlaments gegen das Vergessen der Lehren aus der Geschichte erhoben und dafür viele Auszeichnungen bekommen, darunter die Ehrendoktorwürden der Universitäten Triest und Verona.

ämter Liliana Segre ist Vorsitzende der Organisation »Kinder der Schoa« sowie eine der Initiatoren für Stolpersteine in Mailand und Präsidentin der parlamentarischen Aufsichts- und Kontrollkommission des Senats gegen Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Anstachelung zu Hass und Gewalt.

Als Alterspräsidentin des italienischen Senats sprach sie bei der konstituierenden Sitzung.

Für Italiens Antisemiten gilt Liliana Segre als die jüdische Person im Lande schlechthin. Sie erhält pro Tag rund 200 Hasskommentare und steht seit 2019 unter Polizeischutz.

Tatsächlich fand sie erst, als sie etwa 60 Jahre alt war und keinen Hass mehr gegen ihre früheren Peiniger fühlte, sondern Mitleid, die Worte in sich, um Zeugnis abzulegen. Von da an hielt sie bis zu ihrem 90. Lebensjahr regelmäßig Vorträge in Schulen. Ihre Erzählungen bekamen viel Zuspruch: So schenkte ihr eine Mittelschulklasse symbolisch eine Decke als Schutz oder eine andere einen Block mit Zeichnungen von Koffern, auf die jeder Schüler schrieb, was er auf die Flucht mitgenommen hätte.

BEIFALL Das Schicksal wollte es, dass sie aufgrund der andauernden Erkrankung des ehemaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zurzeit die älteste Senatorin Italiens ist. Sie sprach deshalb als Alterspräsidentin des italienischen Senats zur konstituierenden Sitzung der neu gewählten Parlamentskammer am 13. Oktober zu den Senatoren. Ihren Worten über das Leiden unter dem Faschismus und die nach dem Krieg entstandenen integrierenden republikanischen Werte folgte langer, bewegender Beifall.

Der Kontrast hätte nicht größer sein können, als sie kurz darauf dem neu gewählten Senatspräsidenten, dem Rechtsanwalt Ignazio Benito Maria La Russa, gratulieren musste.

Der ehemalige Verteidigungsminister unter Silvio Berlusconi ist bekannt für seine Faszination für die historische Figur Mussolini. La Russa versprach, Präsident aller im Senat vertretenen Kräfte zu werden, und zitierte sogar den früheren Staatspräsidenten und Partisan Sandro Pertini. Dennoch konnte er nicht verbergen, dass er die historische Rolle des Faschismus als gleichwertig mit der des Antifaschismus erachtet.

Marsch Anders als Deutschland hat Italien seine Vergangenheit nie ganz aufgearbeitet. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass gerade 100 Jahre nach dem sogenannten Marsch auf Rom, als die Anhänger Mussolinis drohten, die Faschistische Partei mit Gewalt an die Macht zu bringen, 26 Prozent der Stimmen – auch wenn die Wahlbeteiligung bei nur etwa 64 Prozent lag – an eine post-faschistische Partei gegangen sind.

Als Ende Oktober in der italienischen Hauptstadt Plakate in Erinnerung an den faschistischen Marsch vor 100 Jahren aufgehängt wurden, kommentierte Liliana Segre prompt: »Der 28. Oktober ist ein trauriges Datum der italienischen Geschichte, das den Anfang des schrecklichsten Unglücks der Nationalgeschichte im letzten Jahrhundert darstellt.«

Vergangene Woche erklärte Segre zur neuen Regierung im italienischen Fernsehen: »Ich könnte natürlich viele Sorgen haben, der Instinkt führt dazu. Aber ich habe einen großen Respekt vor der Verfassung, und die Italiener haben gewählt. Darüber hinaus soll man die Vorurteile, die schon viel Schaden in unserer Geschichte angerichtet haben, bekämpfen. Daher möchte ich zunächst die Schritte der neuen Regierung abwarten, um zu sehen, was geschieht. Ich möchte eine gelassene Beobachterin sein.«

schulbesuch Die heute 92-Jährige ist verwitwet und hat drei erwachsene Kinder. Mit einem Jahr verlor sie die Mutter und wuchs bei ihrem Vater und den Großeltern in einem wohlhabenden Haus im Zentrum Mailands auf. Die Harmonie wurde bald gestört, als sie vom Schulbesuch ausgeschlossen wurde.

»Für Jahre blieb mir das Gefühl, gejagt zu werden, weil ich etwas Unverzeihliches getan hätte, das ich im Folgenden für mich interpretierte als ›die Schuld, geboren zu sein‹«, sagte sie einmal.

Die Familie ließ sich taufen in dem vergeblichen Versuch, den Rassengesetzen zu entgehen. Liliana lebte im Untergrund bei zwei Familien. Dann kamen der Krieg und der Versuch, sich in die Schweiz zu retten: »Ich fühlte mich wie eine Heldin, auf den Pässen hinter Varese. Es war Winter, und ich und mein Vater durchquerten die Wälder. Heimlich über die Grenze!« Doch der Versuch misslang; ein Schweizer Offizier nahm sie am 8. Dezember 1943 in Selvetta di Viggiù fest und übergab sie den Italienern.

Vor Schulklassen im Mailänder Theater Arcimboldi bekannte sie im Januar 2020: »Ich wollte den Namen dieser unvergesslichen Figur nicht wissen, er war ein Mörder und hat uns zum Tode verurteilt, vier Personen. Mit uns waren auch zwei ältere Cousinen. Ich bin die Einzige, die zurückkam, um zu erzählen.«

Erst 2018 entschuldigte sich der Staatsrat von Tessin, Manuele Bertoli, im Namen der Schweiz bei Liliana Segre.

Erst 2018 entschuldigte sich der Staatsrat von Tessin, Manuele Bertoli, im Namen der Schweiz bei Liliana Segre. Sie und ihr Vater wurden in den Gefängnissen von Varese und Como zunächst getrennt und schließlich in Mailand in dem für Juden bestimmten fünften Flügel von San Vittore zusammen inhaftiert. Sie blieben dort für 40 Tage, während derer die Gestapo die Männer immer wieder folterte.

AUSCHWITZ Am 30. Januar 1944 wurden 605 Juden, darunter 40 Kinder, mit Geschrei und Schlägen in abgedeckten Lkws zum Mailänder Hauptbahnhof gebracht. Die Stadt blieb stumm, nur die gewöhnlichen Gefangenen zeigten Solidarität und Trost.

Nach einem kurzen Halt in dem Durchgangslager von Fossoli erreichte der Konvoi Nr. 6 am 6. Februar 1944 Auschwitz. 477 Gefangene wurden sofort in den Gaskammern ermordet. Auf der Rampe sah Liliana ihren Vater zum letzten Mal, er war erst 44 Jahre alt. In ihren Unterarm tätowierte man die Nummer 75190. Liliana Segre arbeitete als Zwangsarbeiterin für das Dritte Reich in einer Munitionsfabrik. Das war ihr Glück, denn so konnte sie der Kälte entkommen. 1945 überlebte sie den wochenlangen Todesmarsch bis Malchow, einem Nebenlager von Ravensbrück.

Kurz vor der Befreiung am 30. April 1945 flohen die Nazis, auch der Lagerkommandant befreite sich von seiner Uniform und warf, ohne es zu merken, der jungen italienischen Jüdin seine Waffe vor die Füße. Sie hätte die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten, aber sie konnte nicht wie ihre Peiniger werden.

Heute meint sie, auf diese Weise sei sie wirklich frei geworden. Dennoch wirft sie sich immer noch vor, ihre Freundin Janine nicht verabschiedet zu haben, als diese »selektiert« und in die Gaskammer geschickt wurde. Gerade sie, die unter den Rassengesetzen erfahren hatte, wie wichtig die wenigen nicht gleichgültigen, wahren Freunde waren.

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