Belgien

Flucht aus Brüssel

Von außen mit Panzerplatten verstärkt: das Athénée Maimonide in Brüssel (Google Street View) Foto: Google Maps

Im vierten Stock der ältesten jüdischen Schule Brüssels lauscht Jacquy Wajc in die gespenstische Stille. Gegründet im Jahr 1947 als Zeugnis für das Wiedererstehen des belgischen Judentums nach der Schoa, wurden in der Athénée-Maimonides-Schule im Zentrum der belgischen Hauptstadt einst 600 Schüler unterrichtet. Zurzeit sind es noch 150.

Seit Jahren sinken die Anmeldezahlen dramatisch. Viele jüdische Familien haben das Viertel verlassen und sind in die Vororte gezogen. In den Straßen um die Schule leben viele Einwanderer, vor allem Muslime. Bei zahlreichen jüdischen Eltern setzte sich die Meinung durch, die Gegend sei für ihre Kinder nicht mehr sicher – vor allem, als die antisemitischen Angriffe während der zweiten Intifada von 2000 bis 2005 ihren Höhepunkt erreichten.

schulden »Mir zerreißt es das Herz«, sagt Schuldirektor Wajc. »Ich erinnere mich an Jahre, als man um diese Tageszeit sein eigenes Wort nicht verstehen konnte, so einen Lärm machte die Sportklasse.« Die sinkende Schülerzahl hat dazu geführt, dass sich die Schule bei verschiedenen staatlichen Einrichtungen mit rund sechs Millionen Euro massiv verschulden musste. Seit einigen Wochen sucht die Schulleitung intensiv nach einem Alternativstandort in den Vororten. Sollten die Anstrengungen zu keinem Ergebnis führen, müsse die Schule möglicherweise noch in diesem Jahr schließen, erklärt Wajc.

»Die Geschichte der Maimonides-Schule ist die Geschichte der Brüsseler jüdischen Gemeinde und ihres wachsenden Unbehagens, in dieser Stadt zu leben«, sagt Joel Rubinfeld, ehemaliger Maimonides-Schüler und stellvertretender Vorsitzender des Europäischen Jüdischen Parlaments, das seinen Sitz in Brüssel hat. Aber es geht nicht nur um Brüssel. Auch in anderen westeuropäischen Großstädten haben Juden ihre angestammten Wohnungen in den Zentren still und leise verlassen, um an den Stadtrand zu ziehen. In manchen Städten sind Viertel, in denen früher jüdisches Leben blühte, zu No-go-Areas für Juden geworden.

Die 80.000 Juden im südfranzösischen Marseille zum Beispiel haben das Stadtzentrum, in dem sie bis in die 80er-Jahre heimisch waren und das jetzt überwiegend von Muslimen bewohnt ist, so gut wie alle verlassen. Ähnliche Migrationsbewegungen gab es in Lyon und Amsterdam. Seit Beginn der zweiten Intifada haben sich die Angriffe gegen Juden in Frankreich, Spanien und den Beneluxstaaten nahezu verdoppelt. Zwischen 2009 und 2011 registriert die belgische Regierungsstelle, die den Antisemitismus im Land beobachtet, durchschnittlich 82 Vorfälle pro Jahr. Das sind doppelt so viele wie in den Jahren 2002 bis 2004. Die meisten Vorfälle ereigneten sich in Brüssel.

morde Bereits vor den Morden, die ein muslimischer Extremist im März 2012 vor einer jüdischen Schule in Frankreich an drei jüdischen Kindern und einem Rabbiner verübte, herrschten rund um »Maimonides« strikte Sicherheitsmaßnahmen, sagt Wajc. Seither hat die Polizei ihre Präsenz vor der Schule noch verstärkt.

Der 8000 Quadratmeter große Gebäudekomplex sieht eher aus wie eine streng geheime Militäranlage. »Maimonides« hat keine Fenster, die Außenfassade ist mit Panzerplatten verstärkt. Die massiven Eisentüren sind nicht gekennzeichnet. Hinter der Eingangstür müssen Besucher durch eine Sicherheitsschleuse und werden von Wachleuten hinter Panzerglas begrüßt.

Solche Maßnahmen waren nicht nötig, als der Schoa-Überlebende Seligman Bamberger 1945 das Fundament für die Maimonides-Schule legte. »Er stellte einen Tisch und einen Stuhl auf den Bahnsteig des Südbahnhofs und fragte die zufällig vorbeigehenden Kinder, ob sie jüdisch seien«, erzählt Wajc. Innerhalb von zwei Jahren hatte Bamberger 100 Kinder um sich geschart, die er in einem Gemeindezentrum unterrichtete. Offiziell wurde die Schule 1947 an ihrem jetzigen Standort in der Nähe des Gare du Midi gegründet.

Der Bezirk war einmal »der ideale Ort« für eine jüdische Schule, sagt Wajc. Rund 100 jüdische Familien wohnten in der Nähe und verkauften Obst und Gemüse in den Läden des Viertels. Bis in die frühen 90er-Jahre harrten ein paar Dutzend Familien aus, heute sind es nur noch drei. Als die Kinder und die Geschäfte größer wurden, hätten viele Juden das Viertel um den Bahnhof verlassen, um in die grüneren und wohlhabenderen Vororte von Forest und Uccle zu ziehen, erklärt Rubinfeld, der früher der Dachorganisation CCOJB vorstand, die die rund 20.000 französischsprachigen belgischen Juden vertritt.

assimilation Mittlerweile sind zahlreiche muslimische Einwanderer nach und nach an die Stelle der abgewanderten Juden getreten. Das Gebiet um den Gare du Midi gilt heute als unsicher, vor allem, wenn es dunkel ist.

»Viele Migranten, die das Viertel jetzt bewohnen, haben keine besonders positive Einstellung gegenüber Juden«, sagt Agnes Bensimon, die in der israelischen Botschaft angestellt ist und früher im Elternrat der Maimonides-Schule saß. Während der zweiten Intifada wurde Bensimons Sohn Nethanel in einem U-Bahnhof überfallen. Eine Reihe weiterer Schüler erlebte ähnliche Angriffe. Die Schule riet daraufhin den Schülern, an einem weiter entfernt liegenden U-Bahnhof auszusteigen und den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen.

Aber nicht nur der Standort macht der Maimonides-Schule zu schaffen, sondern auch die Assimilierung. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Schulen in Brüssel nimmt »Maimonides« keine Schüler auf, die nicht halachisch jüdisch sind. Da etwa 40 Prozent der Juden in Belgien in konfessionell gemischten Ehen leben, reduziert sich das Potenzial möglicher Schüler weiter.

»Wie wird unsere Zukunft in 35 Jahren aussehen?«, fragt Wajc – und fährt fort: »Wir konkurrieren nicht mit den anderen jüdischen Schulen in der Stadt, denn wir sprechen Eltern mit anderen Präferenzen an. Wenn wir nur bald von hier wegkommen, werden sie ihre Kinder wieder zu uns schicken.«

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