Ukraine

Fest der Flüchtlinge

Laubhütte im Hof des Gemeindezentrums Foto: Nina Lishchuk

Galina Kaplinskaja wird den Tag nie vergessen, an dem sie knapp dem Tod entkam. Am 7. August hat die Laborantin Schichtdienst in einem Krankenhaus in Donezk. Seit einigen Wochen liefern sich Armee und Rebellen heftige Gefechte, fast jede Nacht donnert Artillerie am Horizont.

Gegen Mittag schlägt neben der Klinik plötzlich eine Granate ein. »Der Boden schwankte, Glasscherben flogen durch die Luft«, berichtet die 27-Jährige mit dem dunkelroten Haar. Sie kommt mit dem Schrecken davon, aber zwei Menschen werden bei der Explosion verletzt. »Ich wollte danach nur noch weg aus der Stadt«, sagt sie.

krieg Hunderttausende sind seit Beginn des Krieges in der Ostukraine auf der Flucht, darunter auch Juden. Die einen kommen bei Verwandten oder jüdischen Gemeinden in anderen Teilen der Ukraine unter, andere schlagen sich nach Russland durch. Vor Sukkot, dem Laubhüttenfest, das an die Wüstenwanderung der Israeliten nach ihrem Auszug aus Ägypten und an das Wohnen in Hütten erinnert, erzählen die Vertriebenen von ihrer Flucht aus dem Kriegsgebiet.

Galina, die bis vor Kurzem im Donezker Krankenhaus gearbeitet hat, erwischte gerade noch den letzten Zug nach Kiew. In der Nacht ihrer Flucht sprengten die Rebellen einen Teil der Gleise in die Luft, seitdem ist die Bahnverbindung zwischen Donezk und der Hauptstadt unterbrochen. »Meine Eltern flohen Tage später mit dem Auto nach Charkow«, erzählt Galina. »Das war gefährlich, weil die Separatisten an den Straßensperren manchmal Privatfahrzeuge konfiszieren«, berichtet sie weiter. Nun wohnt Galina mit ihren Eltern in einem Hotel auf dem Gelände der Synagoge im Kiewer Bezirk Podol. »Ich dachte, wir würden nur ein paar Tage bleiben, aber wir stellen uns auf eine lange Zeit ein.«

Neben der Synagoge mit den weißen Türmchen steht Natalia Karibowa, die im August ebenfalls nach Kiew flüchtete. Natalia wurde 1941 in Donezk geboren, als die Stadt noch Stalino hieß und bei ihrer Eroberung von den Deutschen größtenteils zerstört wurde. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal einen Krieg erleben muss«, sagt Natalia. Die Rentnerin ist froh, dass sie es gerade noch geschafft hat, mit ihrem Mann aus dem Kriegsgebiet zu entkommen. »Als wir auf den Zug warteten, wurde der Bahnhof mit Maschinengewehren beschossen«, erinnert sie sich.

Offensive Im Juli startete die Armee eine Offensive auf die knapp 900.000 Einwohner zählende Industriestadt. Separatisten und Militär beschossen sich gegenseitig mit Grad-Raketen. Immer wieder schlugen Raketen in Wohnhäuser ein. »Jedes Mal, wenn wir Explosionen hörten, haben wir uns im Keller versteckt«, sagt Natalia, die im Zentrum von Donezk lebte.

Die Organisation Human Rights Watch wirft der ukrainischen Armee wegen des Raketeneinsatzes Menschenrechtsverstöße vor. Denn die Flugkörper können nicht auf ein konkretes Ziel, sondern nur auf einen größeren Bereich gelenkt werden. Die Rebellen seien jedoch mitverantwortlich, sagt die Organisation, weil sie Panzer und Kämpfer in Wohngebieten stationierten. »Mir ist ziemlich egal, wer uns bombardiert, ich will nur in Frieden leben«, erklärt Natalia.

Auch Ewgenja Sokolowskaja ist mit ihren Eltern aus Donezk geflohen und wohnt nun im Hotel der jüdischen Gemeinde. Die 26-Jährige hat an der Nationalen Universität in Donezk Mathematik studiert und bis vor Kurzem als Programmiererin in einer Telekommunikationsfirma gearbeitet. »Von meinem Bürofenster aus habe ich gesehen, wie der Flughafen beschossen wurde und ständig schwarzer Rauch in den Himmel stieg«, erzählt die Frau mit dem blauen Streifenpulli. Freunde und Bekannte hätten die Stadt ebenfalls verlassen, sagt Ewgenja. »Ich kenne dort niemanden mehr.«

stiftung
Rund 216.000 Menschen seien innerhalb der Ukraine auf der Flucht, berichtet die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Mehr als 814.000 Ostukrainer hätten in Russland Zuflucht gesucht, behaupten russische Zeitungen. Überprüfen lässt sich diese Zahl nicht. Ebenso unklar ist, wie viele Juden unter den Vertriebenen sind. »Wir wissen von mindestens 2500 jüdischen Flüchtlingen«, sagt ein Mitarbeiter der Synagoge in Podol.

Galina, Natalja und Ewgenja wohnen mit ihren Familien kostenlos im Hotel der Gemeinde. Die Kiewer Stiftung »Hesed« hat ihnen bei der Flucht geholfen, ebenso wie etwa 200 weiteren Juden aus der Ostukraine. In Schitomir nahe Kiew hat Chabad Lubawitsch ein Flüchtlingscamp für 250 jüdische Ostukrainer eingerichtet.

Der Bürgerkrieg sorgt bei den Flüchtlingen für heftige Diskussionen. Laborantin Galina Kaplinskaja unterstützt die Regierung in Kiew, obwohl sie wegen der Militäroffensive ihre Heimat verlassen musste. »Der Präsident tut nur seinen Job«, sagt sie. Die Separatisten seien von Russland bezahlte Söldner, ist die Frau mit der grünen Kapuzenjacke überzeugt. Rentnerin Natalja Karibowa widerspricht: »Das sind keine Söldner. Das sind Leute wie wir, die kommen aus meiner Nachbarschaft. Die haben mir sogar Wasser und Essen nach Hause gebracht«, sagt die 73-Jährige.

Generationenkonflikt
Für Programmiererin Ewgenja Sokolowskaja ist der Bürgerkrieg auch ein Generationenkonflikt. »Wer für die Separatisten kämpft, hat meist den Zerfall der Sowjetunion miterlebt und wünscht sich das alte System zurück«, denkt sie. Immerhin versprechen die Rebellen soziale Gerechtigkeit, sichere Renten und niedrige Preise. »Ihre Unterstützer waren damals jung, und die Vergangenheit erscheint ihnen besser«, fügt Ewgenja hinzu.

Junge Leute und Studenten stünden eher aufseiten der prowestlichen Regierung. Studenten der Nationalen Universität seien auch deshalb wütend auf die Rebellen, weil die Separatisten ein Wohnheim besetzt und die Studenten rausgeworfen haben, erzählt Ewgenja. »Ich habe Angst, wenn ich diese Banditen auf der Straße sehe.«

Rentnerin Natalia widerspricht vehement: »Die Regierung kämpft nicht gegen Banditen, sondern gegen die eigene Bevölkerung.« Es sei alles friedlich gewesen, als die Donezker im Frühling für ihre Unabhängigkeit auf die Straße gegangen seien, sagt Natalia. Auch die jüdischen Gemeinden in Donezk würden nicht bedrängt, berichtet sie, und die Synagogen hätten geöffnet.

»Der Krieg im Osten ist kein jüdischer Konflikt, sondern einer zwischen Russland und der Ukraine«, betont Yaakov Bleich, Oberrabbiner der Ukraine und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses. In der Gemeinde gebe es verschiedene Meinungen, räumt Bleich ein. Der Rabbiner steht jedoch hinter der Regierung und weist die Behauptung des Kreml zurück, in Kiew habe sich eine antisemitische Junta an die Macht geputscht. »Wir haben keine Zunahme antisemitischer Übergriffe beobachtet«, sagt Bleich. Zwar stellt die rechtsradikale Swoboda-Partei zwei Minister in der Regierung, und auch Neonazis kämpfen im Asow-Bataillon aufseiten Kiews gegen die Rebellen, »diese Gruppen spielen aber keine maßgebliche Rolle«, sagt Oberrabbiner Bleich.

Separatisten
Anfang September haben Regierung und Separatisten in Minsk einen Waffenstillstand vereinbart. Doch die Feuerpause wird von beiden Seiten immer wieder verletzt. Besonders der Donezker Flughafen ist umkämpft, und auch in der Stadt sterben bei Gefechten immer wieder Zivilisten.

Rentnerin Natalia will dennoch möglichst schnell nach Donezk zurück. »Mir ist egal, wer die Stadt kontrolliert. Ich will nur meine Rente«, sagt sie. Programmiererin Ewgenja hingegen glaubt nicht, dass Russland die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk finanzieren wird. »Die haben keine Zukunft«, sagt sie. Wer die Separatisten unterstützt, sei selbst schuld, wenn er bald kein Geld in der Tasche hat, meint Ewgenja.

Die junge Frau will bald nach Israel auswandern und nach Haifa ziehen, wo entfernte Verwandte leben. Hebräisch sprechen könne sie noch nicht, »aber das werde ich schnell lernen«, meint sie. Auch einen Job als Programmiererin werde sie in Israel leicht finden, ist sie überzeugt. Laborantin Galina will ebenfalls nach Israel ziehen. »Bisher waren meine Eltern dagegen, aber vielleicht ändern sie ja jetzt ihre Meinung«, hofft sie.

In diesen Tagen feiern die Flüchtlinge mit ihren Familien Sukkot, das Laubhüttenfest. Um in der Wüste zu überleben, bauten die Israeliten mit Ästen, Laub und Stroh bedeckte Hütten. Für Galina hat das Fest dieses Jahr eine besondere Bedeutung: »In der Wüste haben die Juden Wunder erlebt«, sagt sie. »Heute sehen wir wieder ein Wunder, denn wir sind noch am Leben.«

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