Kanada

»Feindliche Ausländer«

Erwin Schild kam 1941 nach Kanada. Für den 20-jährigen Würzburger war die Ankunft verbunden mit der Hoffnung auf ein Ende der Schrecken, die er in Europa in den Jahren zuvor erlebt hatte. Während der Pogromnacht 1938 wurde die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg überfallen, viele Dozenten und Studenten kamen in Haft, so auch Erwin Schild. Es folgten die Verschleppung ins Konzentrationslager Dachau, die Flucht zunächst nach Holland und anschließend nach England, wo er ein Rabbinerstudium aufnahm. Im Mai 1940 wurde Schild abermals festgenommen – als sogenannter »Enemy Alien«, als feindlicher Ausländer.

Die Schicksale vieler so bezeichneter Menschen sind derzeit Gegenstand einer Ausstellung des Vancouver Holocaust Education Centre (VHEC). »Es ist eine Geschichte, die zu wenige Menschen kennen«, sagt Nina Krieger, Direktorin für Bildung im VHEC. Das von Schoa-Überlebenden gegründete Zentrum bemüht sich, durch ein breites Bildungsangebot vor allem junge Menschen über den Holocaust zu informieren.

Spione Der Impuls für die Ausstellung kam vor mehreren Jahren von Nachkommen der in Kanada internierten Juden, die sich mit Dokumenten und Geschichten an das VHEC wandten. Ihre aus Deutschland stammenden Vorfahren wurden 1940 als potenzielle Spione von den britischen Behörden festgenommen.

Als die Gefahr wuchs, die Deutschen könnten in Großbritannien einmarschieren, vereinbarte die Londoner Regierung mit den Behörden in Kanada und Australien, ihnen Kriegsgefangene sowie »dangerous enemy aliens« zu überbringen. Im Juni und Juli 1940 wurden 2354 männliche Flüchtlinge aus Österreich, Deutschland und Italien – die Jüngsten waren 16 Jahre alt, die Ältesten 60 – auf drei Schiffen nach Kanada gebracht.

Während der Fahrt auf einem dieser Schiffe malte sich Erwin Schild aus, dort eine neue Heimat und Freiheit vorzufinden. Stattdessen erwarteten ihn bewaffnete kanadische Soldaten. »Die Überraschung war, dass wir als deutsche Kriegsgefangene empfangen wurden – mit Maschinengewehren! Es war unglaublich«, sagt der heute 92-Jährige.

Nazilieder Einige der Flüchtlinge blieben mehr als drei Jahre lang interniert – anfangs teilweise zusammen mit bekennenden deutschen Nazis und Kriegsgefangenen. Für Erwin Schild war es ein Schock, plötzlich dieselben Nazilieder zu hören, die er schon aus Deutschland kannte. »Es hat lange gedauert, bis wir unterschiedlich behandelt wurden«, sagt er.

Zudem stellte sich für ihn die bange Frage, ob er möglicherweise gar zurück nach Deutschland geschickt werden würde. »Die kanadische Flüchtlingspolitik dieser Zeit war deutlich antijüdisch«, sagt er. Erst ein Jahr später sei die Behandlung besser und differenzierter geworden.

Im Februar 1942 wurde Erwin Schild schließlich entlassen. In insgesamt zwei Jahren hatte er mehrere Camps erlebt, in denen die Gefangenen eine eigene Infrastruktur aufbauten sowie ein kulturelles und religiöses Leben aufrechterhielten. Die gegenseitige Unterstützung im Alltag, beispielsweise durch das Einrichten von Schulklassen, machte es für viele einfacher, mit der belastenden Situation umzugehen.

unwissen Nach seiner Entlassung erhielt Schild die Nachricht, dass seine Eltern aus Köln deportiert worden und in Riga umgekommen waren. Er weiß bis heute nicht genau, wie sie ums Leben kamen.

Wie viele seiner Mitgefangenen wurde auch Schild kanadischer Staatsbürger. Obwohl er sich heute als stolzer Kanadier bezeichnet, meint er, der Großteil der Bevölkerung sei bis heute ignorant gegenüber dem Thema: »Fast jeder hat etwas über die japanischen und italienischen Internierten während des Zweiten Weltkriegs gehört, aber dass Kanada auch ein Gefängnis für Tausende unschuldige Juden war, wissen sehr wenige.«

Die Ausstellung im Vancouver Holocaust Education Centre soll nun dazu beitragen, das vorhandene Wissen zugänglich zu machen, und möchte Menschen wie Erwin Schild ein Forum für ihre Geschichten bieten.

Mehr als 40 Dokumente, darunter Fotografien, Tagebucheinträge und Zeichnungen, vor allem aber zahlreiche Mitschnitte von Interviews sollen diese Geschichten bewahren und dem Besucher vermitteln. »Wir sind froh, dass wir diese Interviews aufzeichnen konnten«, sagt Nina Krieger, denn drei der Interviewten seien in den vergangenen Jahren bereits gestorben.

Die Ausstellung »Enemy Aliens: The Internment of Jewish Refugees in Canada, 1940–1943« ist noch bis Juni im Vancouver Holocaust Education Centre zu sehen.

www.vhec.org

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