Dies ist die Geschichte der ältesten jüdischen Diaspora – die der persischen Juden. Sie beginnt bereits vor der Zerstörung des Ersten Tempels mit dem Untergang des israelischen Nordreichs um 722 v.d.Z., als der babylonische König die besiegte Bevölkerung in die »Städte der Meder« verschleppte, in den Nordwesten des heutigen Iran. Nach der ersten Eroberung Jerusalems, als die Juden nicht nur nach Babylon versklavt wurden, sondern auch ins persische Isfahan kamen, soll diese Stadt zeitweise »al-Yahudiyya« geheißen haben, Judenstadt.
Zwei Jahrhunderte lebten sie bereits unter den Persern, als deren König Kyros II., »der Große«, sich 537 v.d.Z. erfolgreich gegen die Babylonier erhob und den gefangenen Juden die Rückkehr in ihre alte Heimat und den Wiederaufbau des Tempels ermöglichte. Über die, die blieben, herrschte bald König Artaxerxes II. Er war ein Anhänger des Zoroastrismus, dessen Priester, die Mager, ihre politische Macht zu manifestieren suchten, indem sie ihren Glauben als einzig verbindliche Staatsreligion durchsetzten.
Unter diesem Verfolgungsdruck könnte sich das abgespielt haben, was für die persischen Juden wie für das Judentum auf der ganzen Welt von zentraler Bedeutung ist: die Geschichte von der Errettung der Juden in größter Gefahr, die das Buch Esther erzählt, das an Purim gelesen wird, dem Fest des jüdischen Überlebens. Das einzige Buch der Bibel, in dem Gott nicht vorkommt, und das einzige Fest, das auch nach Ankunft des Messias eingehalten werden wird.
Esther, ein jüdisches Mädchen, das seine Identität zunächst verbirgt, jedoch im entscheidenden Augenblick den Judenfeind Haman stürzt und ihr Volk rettet, steht beispielhaft für das Selbstverständnis der persischen Juden. Trotz Anfeindung und Verfolgung bringen sie an den unter persischer Hoheit betriebenen Lehranstalten von Babylon und Pumbedita die Niederschrift des Babylonischen Talmuds zustande.
Nach dem Sturz der zoroastrischen Dynastie durch die muslimischen Araber im Jahr 642 gelten Juden als »Dhimmis«, Schutzbefohlene, denen ein halbwegs gesichertes, durch Einschränkungen und Sondersteuern erkauftes Aufenthaltsrecht zusteht. Knapp 860 Jahre später gelangt jedoch ein schiitisches Herrscherhaus an die Macht, dessen mystisch-ekstatische Religionsauffassung mit strikten Reinheitsgeboten und einer einmal mehr nach politischem Einfluss gierenden Geistlichkeit das Leben der Juden massiv erschwert.
Mitte des 19. Jahrhunderts hilft ein Prager Jude der verarmten Gemeinde Teherans.
Von nun an müssen sie sich kennzeichnen, unter anderem durch farbige Flicken auf der Kleidung und Schellen am Tschador. Sie dürfen nur noch für Nicht-Muslime reservierte öffentliche Bäder besuchen, müssen sich am Rande von Plätzen vorbeidrücken, jüdische Frauen dürfen ihr Gesicht nicht mehr verschleiern, Juden dürfen keine höheren Häuser als Muslime bauen oder besitzen. Und berührt ein Jude eine Ware, gilt sie als gekauft. Wenn es regnet oder schneit, müssen Juden zu Hause bleiben, um die Reinheit muslimischer Passanten nicht durch Spritzer zu gefährden. Und ein zum Islam übergetretener Jude rückt zum einzig Erbberechtigten seiner Familie auf.
Die Gassen der Judenviertel werden nun zum Schutz vor Pogromen schmal und verwinkelt angelegt, straßenseitige Fenster zugemauert und Eingangstüren auf etwa anderthalb Meter abgesenkt, damit man diese in gebückter Haltung passieren muss und nicht stürmen kann. Zur gleichen Zeit übernahmen Persiens Juden Funktionen, die den Schiiten aus religiösen Gründen verboten sind: das Winzerwesen, das ausschließlich von Männern und Knaben betriebene Schauspiel und, besonders bedeutsam, die Musik.
Halt fand die jüdische Gemeinschaft in strenger Religionspraxis und einem traditionell und gesetzestreu gelebten Judentum. Und, zusätzlich zu Esther, legten sie sich eine zweite, ebenfalls weibliche Schutzpatronin zu: Serach Bat Ascher, die Enkeltochter Jakobs, die diesem als junges Mädchen singend Josephs Weiterleben verkündet hatte, woraufhin er ihr wünschte, dass sie »den Tod nie schmecken möge« – ein Segen, der sich weitgehend erfüllt haben soll.
Serachs Grab
Laut persisch-jüdischer Legende ist Serach in Kanaan einem verirrten Schaf in eine Höhle gefolgt, die sich als ungewöhnlich lang erwies, und gelangte in der Nähe von Isfahan wieder ans Tageslicht, wo sie wunderwirkend in die Geschicke der persischen Juden eingriff. Es gibt tatsächlich eine (wenn auch kürzere) Höhle, und diese ist, wie Serachs nahe gelegenes Grab, in das sie nach einem tausendjährigen Dasein irgendwann doch noch fand, zu einer wichtigen Pilgerstätte der persischen Juden geworden, vor allem zu Rosch Haschana.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein Prager Jude, der Arzt Jakob Eduard Polak, nach Teheran berufen, um an der neu gegründeten Universität Medizin zu unterrichten. Er gilt als Mitbegründer der modernen Iranistik und hat viel für die Verständigung zwischen Europa und Persien getan. Was die Lage der persischen Juden betraf, war seine Einschätzung eindeutig: »Sie lebten in äußerstem Druck und Elend.« Polak wendete sich an die 1860 in Paris gegründete jüdische Selbsthilfeorganisation »Alliance Israélite Universelle«, die nach fast 20-jährigen Verhandlungen 1898 die ersten modernen jüdischen Schulen im Iran eröffnen durfte – nicht nur für Knaben, sondern ausdrücklich auch für Mädchen. Dies ermöglichte den des Französischen mächtigen Absolventen den Zugang zu europäischer Bildung und Karrieren in der neu aufblühenden Ölindustrie.
Die Aufsteiger zogen in angenehmere Stadtteile und verkehrten gleichberechtigt mit den Muslimen ihrer sozialen Sphäre, während die Ärmeren in den engen Innenstadt-Quartieren blieben, aus denen sie nur an Festtagen zu gemeinsamen Ausflügen in die eintrittspflichtigen öffentlichen Parkanlagen aufbrachen – für junge »Judenstadtbewohner« lange die einzige Möglichkeit, Ehepartner ins Auge zu fassen.
Um 1960 begann ein »Goldenes Zeitalter« der persischen Juden.
Der nächste Modernisierungsschub erfolgte 1925, nach der Machtübernahme durch Reza Schah Pahlavi, einem hohen Militär, der sich als »Atatürk« des Iran verstand und den Juden die gesetzliche Gleichstellung sicherte. Unter seinem Sohn Mohammad Reza Schah Pahlavi begann um 1960 sogar ein kurzes »Goldenes Zeitalter« der persischen Juden.
Der junge Schah stattete der Synagoge von Isfahan einen Respektsbesuch ab, und einige Juden nannten ihn gar den »größten persischen Herrscher seit Kyros dem Großen«. Er pflegte gute Beziehungen zu Israel, in das etwa 50.000 persische Juden auswanderten, während die im Iran Verbliebenen enorme wirtschaftliche und politische Fortschritte machten. Wenn auch mit der historischen Erfahrung, dass dies ausschließlich vom guten Willen des nicht überall im Lande beliebten Herrschers abhängt, während die muslimische Geistlichkeit weiterhin gegen sie hetzte. Schließlich übernahmen die Mullahs das Land.
Habib Elghanian vor dem Erschießungskommando
Am 1. April 1979 wurde die Islamische Republik ausgerufen. Am 9. Mai stand der prominenteste Jude Irans, der 70-jährige Habib Elghanian, ein erfolgreicher Industrieller und Philanthrop, vor einem Erschießungskommando: wegen »Korruption, Wirtschaftsimperialismus, Spionage für Israel und feindlichem Verhalten gegen Gott und seine Gesandten«. Elghanian war Anfang 1978, zu Beginn der Revolution, trotz Bitten von Familie und Freunden aus den USA nach Teheran zurückgekehrt, um seiner Verantwortung für die jüdische Gemeinschaft gerecht zu werden. Seine Leiche wurde erst nach mühsamen Verhandlungen zur Beerdigung freigegeben.
Es folgte eine große Emigrationswelle, etwa 75.000 der damals rund 100.000 Juden verließen das Land. Etwa ein Viertel ging nach Israel. Bis zu 40.000 suchten in Amerika Zuflucht, die meisten davon in Kalifornien. Die im Iran verbliebene jüdische Bevölkerung wird heute auf 8000 bis 20.000 Menschen geschätzt. Offiziell heißt es, die größte jüdische Gemeinde im Nahen Osten habe religiöse Freiheit, solange sie sich gegen Israel und für das Regime ausspräche. Tatsächlich leben die Nachfahren der mehr als 2700-jährigen persisch-jüdischen Geschichte permanent unter Spionageverdacht und so in Lebensgefahr. Diskriminierung und Anfeindungen sind Alltag.
Seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich die Situation weiter verschärft. Nach dem israelisch-iranischen Krieg ist es zu Razzien gekommen. Mehrere Hundert Juden aus Teheran und Shiraz sollen verhaftet worden sein. Laut der in den USA ansässigen iranischen Menschenrechtsorganisation HRANA werden derzeit 35 jüdische Iraner verhört, denen »digitale Kommunikation« mit Israel vorgeworfen wird. Ein Mitglied der Teheraner Gemeinde soll HRANA gesagt haben, dass die aktuellen Repressalien »beispiellos« seien. Die Heftigkeit und Härte versetze die Gemeinde in Angst.