Niederlande

Erster Mann in Oostzaan

Ein paar Monate ist es her, da klingelte abends bei Marvin Polak das Telefon. Es war kurz nach dem Essen, und er spielte gerade mit seinen Kindern ein Brettspiel. So vertieft war er, dass er für einen Moment nicht wusste, was zu dieser Stunde jemand von der Kommune Oostzaan von ihm wollte. Erst als es hieß, er möge seinen Computer anschalten, um die Ratsversammlung live verfolgen zu können, dämmerte es ihm. »Wir werden verkünden, dass wir uns für Sie entschieden haben als unseren neuen Bürgermeister«, kam eine Stimme aus der Leitung.

Und dann hörte Polak im Livestream den Vorsitzenden der Kommission erklären, wieso man ihn – in dem indirekten Wahlverfahren – für besonders geeignet halte. Mit einem Mal lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter. »Du musst das jetzt wirklich machen«, durchfuhr es ihn.

AMTSZIMMER Anderthalb Jahre später empfängt Marvin Polak im Stadthaus der kleinen Kommune, die sich im Norden an die Hauptstadt Amsterdam anschließt. Hinter ihm, an einer blau gestrichenen Wand in seinem Amtszimmer, hängt ein Porträt des niederländischen Königspaars.

Er hat sich mit Online-Lektüre auf den Termin mit der Jüdischen Allgemeinen vorbereitet, so wie er das immer tut bei neuen Themen. »Ich muss kein Experte werden, aber ich will ausreichend Ahnung von den Dingen haben«, ist einer seiner Leitsätze. Er mag es, sich in Neues einzuarbeiten: in knifflige Fragen, eine Herausforderung, das Amt als Bürgermeister von Oostzaan.

Der Politiker will lieber nach seiner Persönlichkeit beurteilt werden als nach seiner Herkunft.

Knapp 10.000 Personen wohnen hier, im Dorfzentrum gibt es zwei Supermärkte, eine Drogerie, etwas Gastronomie und die protestantische Kirche. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war Oostzaan ein Bollwerk der kommunistischen Partei. Marvin Polak dagegen gehört der liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) an, die seit mehr als zehn Jahren in Den Haag an der Regierung ist.

Von allen anderen Bürgermeistern des Landes unterscheidet Polak, dass er jüdisch ist. In einem Gespräch mit dem Nieuw Israëlitisch Weekblad wandte er sich kürzlich gegen eine Wahrnehmung als »jüdischer Bürgermeister«. »Ich werde lieber nach meiner Persönlichkeit beurteilt als nach meiner Herkunft«, stellt er klar.

Der 44-Jährige, der nur sporadisch in die Synagoge geht, sich aber der Orthodoxie näher fühlt als der Reformbewegung, sagt: »Ich stehe voll hinter der Trennung von Kirche und Staat. Natürlich wird mein Handeln, als Mensch und als Bürgermeister, durch meine jüdische Erziehung beeinflusst. Aber wir leben in einem säkularen Land, in dem nicht alle die gleichen Vorstellungen über Glauben und Religion haben. Das ist mir sehr wichtig.«

KINDHEIT Aufgewachsen ist Marvin Polak in Uithoorn, einem Städtchen südlich von Amsterdam. In der Hauptstadt besuchte er unter anderem jüdische Schulen und leitete die Jugend-Organisation Tikwatenoe. Dann machte er eine Piloten-Ausbildung, zog zuerst nach Dublin und dann nach London. Er flog für Ryanair durch ganz Europa – »von Irland bis Israel«, wie er sagt.

Wegen ungünstiger Arbeitsumstände strebte er dann einen Wechsel zur Fluggesellschaft Transavia an. »Doch ich musste einige Zeit überbrücken und weiterhin Geld verdienen. Also half ich einem Freund, einen Betrieb aufzubauen, der sich mit Informations- und Kommunikationstechnik beschäftigt. Weil das recht gut lief, blieb ich dort hängen und hatte dann die nächsten zehn Jahre lang mein eigenes Unternehmen.«

Polak ist ambitioniert und zielstrebig, doch auch offen für ungeplante Möglichkeiten, die sich entlang seines Weges auftun. Weil er sich schon immer für Politik interessierte, kam er in seinem Geburtsort Uithoorn über einen Bekannten zur lokalen VVD.

gemeinderat Anderthalb Jahre später wurde er in den Gemeinderat gewählt. »Ich fand es schön, der Gemeinschaft, in der ich aufwuchs, etwas zurückzugeben.« Als nach acht Jahren einer der VVD-Beigeordneten im Stadtrat aufhörte, kam die Fraktion auf Polak zu. »Wäre das nicht etwas für dich?« Er antwortete instinktiv: »Natürlich nicht!«

Wenn Marvin Polak das heute erzählt, amüsiert ihn das. Sein trockenes, selbstironisches Understatement fällt schnell auf, wenn man mit dem Bürgermeister ins Plaudern gerät. Genauso wie die Tatsache, dass sich dahinter oft ein rationales Kalkül verbirgt – und ein emotionales Prinzip. Er hatte eine Familie mit drei kleinen Kindern, die er mit seinem Betrieb versorgen konnte.

»Warum also von diesem Pfad abweichen?«, war seine Überlegung – bezeichnend für den Familienmenschen Marvin Polak. Und auch heute noch, betont er, stehen seine Kinder an erster Stelle.

herausforderungen An jenem Punkt aber kam eine andere Seite seiner Persönlichkeit ins Spiel: Er liebt Herausforderungen und erschließt sich gern Neues. »Ein bisschen Pippi Langstrumpf«, so beschreibt er das. »In der Art: Ich habe das noch nie getan, also werde ich es schon können!«

Und so beginnt er, sich ernsthaft mit der Idee zu beschäftigen. Fragt sich, wie oft im Leben man wohl eine solche Chance bekäme. »Eines Morgens wachte ich dann auf und dachte: Ich mach es!«

In den nächsten vier Jahren leitete er in Uithoorn die Resorts Räumliche Ordnung, Wirtschaft, Verkehr und Soziales. »Absolut fantastisch«, findet er diese Aufgabe, doch bei den kommenden Wahlen trat er dennoch nicht mehr an. Inzwischen war seine Ehe zerbrochen, und er war zum Großteil für seine drei Kinder verantwortlich. »Ich hätte dann meine Familie oder mein Amt vernachlässigt. Oder beides. Also hörte ich schweren Herzens auf.«

Mit 39 zog sich Polak aus der Politik zurück und stieg wieder in seinen alten Betrieb ein. Doch da waren die Gespräche mit seinem Coach, der Personen, die eine öffentliche Funktion bekleideten, bei der Rückkehr ins Berufsleben unterstützt. »Dadurch wurde mir klar, dass mein Herz bei Politik und Verwaltung liegt.«

Er erwog eine Rückkehr als Dezernent, doch der Coach spornte ihn zu Höherem an: »Warum versuchst du es nicht als Bürgermeister?« Polak überlegte, führte Gespräche mit Bürgermeistern, mit Freunden, der Familie – und begann, nach offenen Stellen zu suchen. »Ich bewerbe mich. Es wird ja nicht gleich beim ersten Versuch klappen«, dachte er. »Aber dann lerne ich schon einmal das Prozedere kennen.«

FUSSBALL Am 1. Juni 2021 steht Marvin Polak auf der Bühne des kleinen Theaters von Oostzaan. Soeben hat man ihm die Amtskette umgehängt. Er wendet sich zum ersten Mal als Bürgermeister an den Gemeinderat und an die Einwohner des Ortes: »Es ist eine Ehre, diese prächtige Funktion zu bekleiden«, sagt er und verspricht, sich mit Herz und Verstand für die örtliche Gemeinschaft einzusetzen.

Er stellt sich den Menschen als Unternehmer und Familienmensch vor, als Fan von Ajax Amsterdam und sagt, dass er in seiner Freizeit gern kocht, »für möglichst viele Leute«.

Doch auch die Herausforderungen nahm er in seiner ersten Rede sofort ins Visier: die holprige gemeinsame Verwaltung mit einer Nachbarkommune, die Kriminalität, von der das kleine Oostzaan durch die Nähe zu den Metropolen im Westen des Landes betroffen ist.

BDS Nicht zu vergessen die Unruhe um seine eigene Person: Bald nach dem überraschenden Anruf im Frühjahr wurde bekannt, dass Polak vor Jahren zwei Twitter-Berichte weitergeleitet hatte, welche die Unterstützung der Partei GroenLinks für die israelfeindliche BDS-Bewegung kritisiert hatten. Der eine stammte von dem Schriftsteller Leon de Winter, der andere von dem rechten Politiker Thierry Baudet. GroenLinks-Vertreter in Oostzaan waren empört.

Die ganze Affäre sagt mehr aus über die Polarisierung des niederländischen Diskurses als über Polak. Der Bürgermeister ist zwar erst Mitte 40 und hat eine gewisse jugendliche Ausstrahlung, doch in den sozialen Medien ist er kaum präsent.

Es sei ihm um die Sache und Kritik an der BDS-Bewegung gegangen, was beide Berichte zum Ausdruck gebracht hätten. Von Baudet distanziert er sich ansonsten deutlich. Bezeichnend ist daneben, dass ein privater Retweet einer Person, die zum fraglichen Zeitpunkt kein politisches Amt innehatte, für mehr Aufregung sorgte als die Frage, inwieweit Israel-Boykotte antisemitisch motiviert sind.

Die zunehmende Judenfeindlichkeit in der Gesellschaft bereitet ihm Sorgen.

Inzwischen ist die Sache ausgeräumt, und Polak hat sich in sein Amt eingearbeitet. Die zunehmende Judenfeindlichkeit in der Gesellschaft bereitet ihm allerdings weiter Sorgen. Die Anschläge in den vergangenen Jahren und die Diskussionen darüber, ob es besser wäre, auszuwandern.
Für Marvin Polak, der sich durch und durch niederländisch fühlt, käme dieser Schritt nicht infrage.

Auch hat er am eigenen Leib nie Antisemitismus erfahren. »Neulich aber kam ich von einer Schiwa, einem Trauerbesuch. Ich war nach draußen gegangen, während ich mich unterhalten hatte – und merkte erst am Auto, dass ich meine Kippa noch aufhatte. Da erschrak ich und fragte mich, ob mir jemand hinterher geschaut hatte.«

jubiliare Auf sein erstes Jahr als Bürgermeister blickt Marvin Polak geradezu enthusiastisch zurück. »Wunderschön« findet er seine Aufgabe, auch wenn sie ihn 24 Stunden am Tag ausfülle. Überrascht hat ihn, wie sehr sich Jubiliare freuen, wenn er sie zum runden Geburtstag oder zur Diamantenen Hochzeit besuche. »Dabei kennen sie mich doch gar nicht, aber es bedeutet ihnen viel, dass der Bürgermeister kommt.«

Wie sehr er in seine Rolle hineingewachsen ist, zeigt sich an einem vermeintlich unbedeutenden Detail: »Selbst in einem so heißen Sommer wie dem vergangenen gehe ich in Oostzaan nicht mehr in Shorts zum Einkaufen!«

Demnächst bekommt Marvin Polak noch eine weitere Funktion dazu. Eine seiner Töchter ist in seine Fußstapfen getreten und leitet die jüdische Jugendorganisation Tikwatenoe. »Ich finde es schön, dass sich diese Geschichte so fortsetzt«, sagt er, der dort 25 Jahre als Freiwilliger, Vorsitzender und Koch tätig war.

Neulich fragte sie ihn, ob er nicht einmal wieder kochen wolle. Die Antwort war bezeichnend: »Ich habe keine Zeit dafür, aber ich mache es trotzdem! Irgendwie werde ich das schon regeln!«

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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