Tschechien

Ende eines Traums

August 1968 in der Prager Innenstadt: Junge Tschechen versuchen, sich gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer zur Wehr zu setzen. Foto: Getty Images

Eine Weile sah es so aus, als würde alles gut gehen für »die Kinder von der Maisel-Straße«: Endlich konnten sie sich wieder treffen, die jungen tschechischen Juden. Abiturienten waren sie damals, einige Studenten waren dabei, und in den 60er-Jahren war die Aufbruchstimmung für sie greifbar. Sie gehörten zur ersten Generation von Juden, die nach all den Verfolgungen wieder frei atmen konnte. Der Prager Frühling verhieß ihnen Freiheit, religiös wie persönlich – bis sie nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen ernüchtert in einer anderen Welt aufwachten.

Die Kinder der Maisel-Straße: Sie sind bis heute der sichtbarste Beleg dafür, wie eng die Verzahnung des Prager Frühlings mit dem jüdischen Leben war. Die Maisel-Straße ist in Tschechien ein Synonym für die jüdische Gemeinde, die hier mitten in der Prager Altstadt von jeher ihren Sitz hat und ihre älteste Synagoge. Die Kinder der Maisel-Straße erlebten etwas, was für die Generationen vor ihnen undenkbar war: Sie konnten sich offen zu ihrem Judentum bekennen und sich untereinander anfreunden.

»Als der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, verließen sie das Land, sie verteilten sich über die ganze Welt«, sagt Tomas Kraus, der Geschäftsführer der Föderation jüdischer Gemeinden in Tschechien. »Das hat die jüdische Gemeinschaft hart getroffen: Auf einen Schlag verschwand eine ganze Generation.« 6000 bis 10.000 Juden verließen in jenen Wochen die Tschechoslowakei, wird heute geschätzt – eine gewaltige Zahl angesichts der gerade einmal 25.000 Mitglieder.

Soldaten Tomas Kraus war damals 14 – ein paar Jahre zu jung, um zu den Kindern der Maisel-Straße zu gehören. »Wo ich war, als die Soldaten einmarschierten?« Kraus lacht. »Klar weiß ich das noch, das weiß in meiner Generation jeder bis ins kleinste Detail!« Ausgerechnet in West-Berlin hielt er sich damals auf, mit seiner Mutter war er zu Besuch bei Freunden. Im Radio bekamen sie mit, was daheim in Prag geschah.

Er erinnert sich noch an die langen Debatten: Sollten sie im Westen bleiben oder den Schilderungen glauben, dass der Prager Frühling weitergehen werde? Sie entschieden sich für die Rückkehr. »Zweimal konnte ich noch in den Westen reisen, mein letzter Besuch war zu Weihnachten 1969«, sagt er heute. »Danach haben sie die Grenzen von einem Tag auf den anderen geschlossen, und ich kam 20 Jahre lang nicht mehr aus dem Land.«

Der Prager Frühling ist nicht nur wegen solcher persönlichen Schicksale auch ein jüdisches Thema, sondern auch wegen seiner Urheber: Die Liberalisierung in der tschechoslowakischen Gesellschaft war aufs Engste mit jüdischen Akteuren verbunden.

Einer von ihnen war Eduard Goldstücker. Bekannt wurde er als Germanist. Er war aber zugleich kommunistischer Funktionär, erster Botschafter in Israel und später Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands.

In seiner Autobiografie Prozesse – Erfahrungen eines Mitteleuropäers, die kurz nach der politischen Wende erschien, erinnert er sich an das Tauwetter der 60er-Jahre: »Vieles schien darauf hinzuweisen, dass es vielleicht doch möglich sein würde, den humanen Gehalt der Ideen des Sozialismus zu retten, ihn von den Deformationen, die er in Russland erfahren hatte, zu befreien.«

Die enge Verbindung zwischen Juden, dem Kommunismus und dem Prager Frühling begann aber viel eher. Als 1948 die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht kamen, waren unter den führenden Köpfen erstaunlich viele Juden.

»Das kommunistische Regime wusste, dass die jüdische Gemeinschaft loyal sein würde, weil sie den Faschismus als den größten Feind betrachtete. Fast alle Bezirkschefs der kommunistischen Partei waren zum Beispiel Überlebende des Holocaust«, sagt Tomas Kraus.

Und: Als der Staat Israel gegründet wurde, kam viel Unterstützung aus Moskau, wo man hoffte, dass Israel ein sozialistisches Land werden würde. Die Tschechoslowakei lieferte auf russisches Geheiß Waffen, trainierte Kampfpiloten – eine Hilfe, die bis heute als Pfeiler für die israelische Selbstbehauptung in den Anfangsjahren gilt. Eduard Goldstücker, der schon in den Vorkriegsjahren überzeugter Kommunist war, wurde erster tschechoslowakischer Botschafter in Tel Aviv. Das sollte ihm fast zum Verhängnis werden.

Als sich herausstellte, dass Israel sich nicht zum sozialistischen Bruderstaat entwickeln würde, reagierte Moskau denkbar brutal – vorwiegend in der Tschechoslowakei. Rudolf Slansky, der jüdische Generalsekretär der Kommunistischen Partei, wurde in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und mit ihm viele seiner Weggefährten. Auch Eduard Goldstücker verschwand hinter Gittern, bis er viele Jahre später rehabilitiert wurde.

Das Ziel der Moskauer Politik sei klar gewesen, schreibt er: »Zu den durch barbarische Justizmorde verfolgten Zielen trat nun die Absicht hinzu, die proarabische Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik eindringlich, gleichsam mit Menschenopfern zu bestätigen, vorwiegend jüdischen aus dem Land, das auf Geheiß Moskaus an der Entstehung des Staats Israel einen beträchtlichen Anteil gehabt hatte.«

Schauprozesse Tomas Kraus, der Geschäftsführer der Föderation jüdischer Gemeinden, kennt den Schock der Schauprozesse aus zahlreichen Erzählungen. »Jeder Jude in diesem Land war in einer Situation, die so ähnlich war wie im Nationalsozialismus«, sagt er. »Am Anfang ging es tatsächlich ums Überleben, später, nach Stalins Tod, drohte nicht mehr der Tod, aber die Kommunisten zerstörten Karrieren, Bildungswege und generell die Art der Lebensführung. Der primitive russische Antisemitismus wurde importiert – zusammen mit russischen ›Beratern‹, die Politiker damals zur Seite gestellt bekamen.«

Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, was der Prager Frühling für Juden bedeutete: Die Reformer unter den Kommunisten hatten die Oberhand gewonnen. Ihr erklärtes Ziel war die Schaffung eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« – ein Schlagwort, das um die Welt ging. Die ganze Gesellschaft, die gebeutelt war von Schauprozessen, von Bespitzelungen, von Mangelwirtschaft und kollektivem Misstrauen, atmete auf einmal auf.

Unter den Juden habe es eine regelrechte Sehnsucht gegeben nach religiösem Leben, die jahrelang unterdrückt blieb und sich jetzt Bahn brechen konnte, sagt Kraus. »Vorher waren die Leute zurückgepresst in die jüdischen Ghettos, diesmal vor allem im geistlichen Sinne – aber in den 60er-Jahren konnten sie auf einmal herauskommen, sie mussten sich nicht mehr verstellen.« Es kam zu einer Renaissance der jüdischen Gemeinden.

Gottesdienste gab es zwar auch vorher schon, aber eben keine sonstigen Tätigkeiten – und das, obwohl für viele Juden die Familientradition im Vordergrund stand und weniger die religiöse Dimension. »Auf einmal war möglich, was kurz zuvor noch unvorstellbar war – man konnte sich treffen, man konnte Veranstaltungen organisieren«, sagt Tomas Kraus im Rückblick auf die 60er-Jahre.

Es war die Zeit, in der Eduard Goldstücker als einer der führenden Intellektuellen des Landes und Professor an der Karls-Universität auf einer Versammlung sprach. 1963 lud die »Gesellschaft für die Verbreitung wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse« zu einer Diskussion. Kurz zuvor hatte in Moskau der dortige Regierungschef Nikita Chruschtschow ge­gen die moderne Kunst gewettert. 4000 Teilnehmer quetschten sich in Prag in den Saal, als Goldstücker ans Mikrofon trat: »Ich sagte im Wesentlichen, dass ich bei aller Hochschätzung Chruschtschows (…) mit seinen Ansichten über die Kultur nicht übereinstimmen kann, weil sie rückständig seien.« Seit Februar 1948 war dies das erste Mal in der Tschechoslowakei, dass jemand die Vorstellungen des Führers der Sowjetunion öffentlich kritisierte.

In der kommunistischen Zeit, in der Politik nicht zuletzt über Symbole gemacht wurde, war eine solche Kritik, die nicht geahndet wurde, ein unmissverständliches Signal: Die Partei hielt die Zügel lockerer. Das war eines der ersten Anzeichen des Tauwetters.

Kurz darauf kam es zu einem Ereignis, bei dem wieder Eduard Goldstücker federführend war: Als Germanist und Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands lud er Wissenschaftler ins böhmische Schloss Liblice ein – zu einer Konferenz ausgerechnet über Franz Kafka, den bis dahin im Kommunismus verpönten Prager Autor. Es sei der Versuch gewesen, Kafka zu rehabilitieren, schreibt Goldstücker in seinen Memoiren – trotz Gegenwinds, vor allem aus der DDR:
»Die Mehrzahl ihrer Repräsentanten hatte auf der Konferenz von Liblice den Standpunkt vertreten, dass Kafka zwar ein großer Künstler des 20. Jahrhunderts sei, dass er aber der sozialistischen Gesellschaft bereits nichts mehr zu sagen habe und man ihn daher bloß als historisches Phänomen zur Kenntnis nehmen müsse. In der DDR war man von dem Gedanken konsterniert, dass in ›unserem‹ Sozialismus Entfremdung existieren sollte.«

Es gibt Historiker, die diese Kafka-Konferenz im Jahr 1963 auch heute noch als Beginn des Prager Frühlings einstufen. Es war aber nicht nur Goldstücker, der hinter den Liberalisierungen stand. An vielen Stellen wurde die alte, harte Politik aufgeweicht – und viele der Akteure waren Juden. Ota Sik etwa – eine schillernde Figur: Holocaustüberlebender, Maler, Wirtschaftsprofessor und Mitglied des kommunistischen Zentralkomitees – entwarf eine neue Wirtschaftspolitik, die den Staat als marktwirtschaftlich agierende Instanz verankerte. Es ist das Prinzip, das in leicht abgewandelter Form heute in China praktiziert wird.

Das religiöse Leben blühte in den jüdischen Gemeinden ebenfalls auf – es waren die »Kinder der Maisel-Straße«, die an der Spitze dieser Renaissance standen. Ihr Judentum sahen sie eben nicht mehr nur als kulturelles Erbe, sondern sie wollten auch die religiöse Seite neu aufleben lassen. Einige Jahre lang klappte das gut.

Aber dann kam der 21. August des Jahres 1968. Im Morgengrauen rollten sowjetische Panzer durch Prag, die Moskauer Herrscher wollten sich den tschechoslowakischen Sonderweg nicht länger gefallen lassen. Binnen weniger Minuten war die Hoffnung dahin, die über Jahre gekeimt war.

»Ich hielt es mit der Hoffnung, die ich aus der Gewissheit schöpfte, dass unser Vorhaben im besten Interesse des Sozialismus lag und dass unsere Verbündeten dies früher oder später einsehen würden«, erinnert sich Goldstücker. Doch: »Die so Denkenden wurden herb belehrt, dass Breschnew und den Seinen nicht so sehr am Sozialismus gelegen war als an der Absicherung imperialer Herrschaft.«

Staatsführung Die Mitglieder der Prager Staatsführung wurden nach Moskau verschleppt und mussten eine Erklärung unterzeichnen. Der Inhalt: Sie seien damit einverstanden, dass sowjetische Truppen in der Tschechoslowakei stationiert würden. Nur einer der Männer unterschrieb das »Dokument der Schande« nicht, als das es später in Prag bezeichnet werden sollte: Frantisek Kriegel. Er war Jude.

In Prag setzte ein Prozess ein, der sarkastisch »Normalisierung« genannt wurde. Es war eine Rückkehr in die finsteren Zeiten der Bespitzelung, der Entrechtung, der Bevormundung.

Die meisten Kinder aus der Maisel-Straße gingen rechtzeitig ins Exil. Mit ihnen verlor die jüdische Gemeinschaft des Landes viele der engagiertesten Mitglieder.

Eduard Goldstücker ging einige Wochen in den Untergrund und ließ sich dann über die Grenze nach Österreich schmuggeln. Er lebte im britischen Exil und kam erst nach der politischen Wende wieder nach Prag zurück, wo er im Jahr 2000 starb.

Und die Russen? Erst jüngst tauchten Unterlagen aus einem Moskauer Archiv auf, die zeigen, wie die Staatsführung dort über den Prager Frühling dachte. Die Schlussfolgerung: Nichts anderes sei der Prager Frühling als eine jüdische Verschwörung.

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