Mexiko

Eine Physikerin im Rathaus

Mit der Naturwissenschaftlerin Claudia Sheinbaum bekommt Mexiko-Stadt zum ersten Mal eine jüdische Bürgermeisterin

von Andreas Knobloch  03.07.2018 09:43 Uhr

Steht für eine laizistische Stadtpolitik: Claudia Sheinbaum Pardo (56) Foto: Getty Images

Mit der Naturwissenschaftlerin Claudia Sheinbaum bekommt Mexiko-Stadt zum ersten Mal eine jüdische Bürgermeisterin

von Andreas Knobloch  03.07.2018 09:43 Uhr

Es ist das erste Mal in der Geschichte Mexikos, dass eine Frau zur Bürgermeisterin der Hauptstadt gewählt wurde. Und eine weitere Premiere: Die neue Regierungschefin von Mexiko-Stadt ist Mitglied der jüdischen Gemeinde. Claudia Sheinbaum Pardo von der linken Partei Nationale Erneuerungsbewegung (Morena) gewann am Sonntag mit deutlichem Vorsprung die Wahlen.

Die jüdische Politikerin holte mindestens 20 Prozent mehr Stimmen als ihre schärfsten Rivalen Alejandra Barrales Magdaleno von der bisher in der Hauptstadt regierenden sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und Mikel Arriola Peñalosa von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI).

Während Arriola früh am Wahlabend seine Niederlage einräumte, erkannte Barrales erst sechs Stunden nach den ersten Hochrechnungen Sheinbaums Wahlsieg an. Damit endet nach 21 Jahren die Regierungszeit der PRD in der mexikanischen Hauptstadt.

Morena-Partei Sheinbaum ist die erste gewählte Regierungschefin von Mexiko-Stadt und erst die zweite Frau an der Spitze der Millionenmetropole. Vor ihr hatte Rosario Robles die Hauptstadt 15 Monate lang regiert (von September 1999 bis Dezember 2000), nachdem der gewählte Bürgermeister Cuauhtémoc Cárdenas zurückgetreten war, um sich dem Präsidentschaftswahlkampf zu widmen.

Zum ersten Mal seit 1997 werden Land und Hauptstadt damit wieder von derselben Partei regiert. Morena-Parteichef Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, war am Sonntag mit mehr als 50 Prozent der Stimmen in einer historischen Abstimmung zu Mexikos neuem Präsidenten gewählt worden.

Ohne López Obrador, der lange Jahre Mitglied der PRI und später Gründungsmitglied der PRD war, ist Sheinbaums politische Karriere nicht zu verstehen. Im Wahlkampf gab es kaum ein Plakat, auf dem sie nicht zusammen mit AMLO zu sehen war.

Im Jahr 2000 hatte sie dieser als damals neu gewählter Bürgermeister von Mexiko-Stadt in sein Kabinett (2000–2005) geholt. Sheinbaum wurde Umweltministerin und war in dieser Zeit mitverantwortlich für zwei der umstrittensten und zugleich symbolischsten Projekte der AMLO-Administration: das sogenannte zweite Stockwerk der Periférico-Stadtautobahn und die Einrichtung der Metrobuslinien.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2006 fungierte Sheinbaum als AMLOs Sprecherin. AMLO war damals noch Kandidat der PRD. Im Sommer 2014 gründete er dann als Konsequenz aus seiner erneuten Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2012 und seinem Austritt aus der PRD die Partei Morena. Sheinbaum folgte ihm.

2015 wurde Sheinbaum für Morena zur Bezirksbürgermeisterin von Tlalpan, dem größten Verwaltungsbezirk von Mexiko-Stadt, gewählt. Während ihrer Amtszeit hatte sie es mit einem der tragischsten Ereignisse in der Hauptstadt in den vergangenen 30 Jahren zu tun: dem Erdbeben vom 19. September 2017, das mehr als 300 Menschenleben forderte.

In dem von ihr regierten Verwaltungsbezirk stürzte eine Schule ein und begrub 19 Kinder und sieben Erwachsene unter sich. Die Unregelmäßigkeiten am Bau markierten die letzte Etappe von Sheinbaums Amtszeit und wurden von ihren Rivalen im Wahlkampf immer wieder angesprochen.

Darüber hinaus wurden mehrere von Sheinbaums Wahlkampfveranstaltungen tätlich angegriffen. Einen antisemitischen Hintergrund gab es dafür offenbar nicht – Gewalt gegen Politiker ist in Mexiko weit verbreitet.

Herkunft Sheinbaum selbst ist seit ihren Studententagen politisch aktiv. Ihre Großeltern väterlicherseits waren Anfang des 20. Jahrhunderts aus Litauen nach Mexiko eingewandert. Die Familie mütterlicherseits waren sefardische Juden aus Bulgarien, die vor den Nazis nach Mexiko flohen.

Sheinbaums Eltern wurden in Mexiko geboren und gehörten später der 68er-Bewegung an. Die heute 56-jährige Claudia Sheinbaum ist studierte Physikerin und hat im Ingenieurwesen promoviert. Vor ihrer Karriere als Politikerin genoss sie großes Ansehen als Wissenschaftlerin.

Im Gegensatz zu López Obrador ist sie keine, die die Massen bewegt. Bei öffentlichen Auftritten sieht man sie kaum einmal lächeln. Ihre Reden aber schreibt sie selbst, wie sie in einem Interview erklärte.

Sheinbaum gilt als linke Pragmatikerin, die sich für kulturelle Vielfalt, Umweltbelange, Indigene und Frauenrechte einsetzt. »Meine Regierung wird laizistisch sein«, sagte sie gegenüber der spanischen Tageszeitung El País, angesprochen auf das durchaus umstrittene und in gewissem Sinne widersprüchliche Wahlbündnis ihrer Partei mit der rechten evangelischen Kleinpartei Encuentro Social (PES).

Die tritt gegen das Recht auf Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe ein – Errungenschaften, die in Mexiko-Stadt im Gegensatz zum Rest des Landes seit einigen Jahren rechtlich verankert sind.

»In Mexiko-Stadt gibt es Rechte, die unumkehrbar sind«, sagt Sheinbaum. »Wenn jemand von der PES zusammen mit mir regiert, wird er dies akzeptieren müssen.«

An Problemen und Themenfeldern für die neue Regierung fehlt es in der Hauptstadt nicht: die durch den »Drogenkrieg« überbordende Gewalt, der Wassermangel in vielen Verwaltungsbezirken im Süden und Südosten der Stadt, die Frauenmorde (im Durchschnitt drei pro Woche), die Luftverschmutzung oder der ineffiziente öffentliche Nahverkehr in vielen Bezirken – die Liste ist lang.

sparmassnahmen Als Regierungschefin wird Sheinbaum Lösungen präsentieren müssen. Noch in der Wahlnacht versprach sie, »die Korruption zu beenden«, und kündigte Sparmaßnahmen an. Sie wolle verantwortungsvoll die Sicherheit in der Stadt wiederherstellen. Dafür solle die Polizei eine zentrale Führung erhalten, die den Rechtsstaat respektiert und die Verbrechensursachen bekämpft.

Auf einer Wahlkampfveranstaltung versprach Sheinbaum kürzlich: »Nur weil ich wie eine dünne Wissenschaftlerin aussehe, heißt das nicht, dass ich hier nicht gegen die Kriminalität vorgehen werde!«

Zudem kündigte Sheinbaum Investi­tionen in der Wasserversorgung und beim öffentlichen Nahverkehr an: »Wir werden die Art und Weise verbessern, wie Wasser verteilt wird und wie wir uns durch diese Stadt bewegen.« Darüber hinaus wolle sie Kultur, Sport, Bildung und Beschäftigung für junge Menschen fördern. »Wir werden Sie nicht enttäuschen«, sagt Sheinbaum.

Nach ihrem Wahlsieg begleitete sie López Obrador bei dessen Siegeszug von der Avenia Juárez zum Zócalo, Mexikos zentralem Platz mit Kathedrale und Regierungspalast. Dieser war Sheinbaum vor wenigen Tagen von der Regierung von Mexiko-Stadt für ihren Wahlabschluss mit Verweis auf ein Public Viewing der Fußball-WM noch verweigert worden. Doch künftig gehen die Genehmigungen über ihren Schreibtisch.

USA

Wie ein böser Traum

Anti-Israel-Proteste sorgen an Elite-Universitäten für Gewalt und Chaos. Eine Studentin berichtet aus New York

von Franziska Sittig  26.04.2024

USA

Berufungsgericht hebt Urteil gegen Harvey Weinstein auf

Die Entscheidung ist ein Paukenschlag – vier Jahre nach der Verurteilung des ehemaligen Filmmoguls

 25.04.2024

Mexiko

Präsidentschaftskandidatin von Bewaffneten aufgehalten

Steckt ein Drogenkartell hinter dem bedrohlichen Zwischenfall?

 22.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Der Regisseur möchte über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

USA/Israel

Biden: Pessach-Fest ist besonders hart für Familien der Geiseln

Die abscheulichen Gräueltaten der Hamas dürften niemals vergessen werden, sagt der Präsident

 22.04.2024

Ukraine

Mazze trotz Krieg

Kyivs älteste Synagogen-Bäckerei produziert seit Jahrzehnten, und nun auch bei Raketenbeschuss

von Michael Gold  22.04.2024

Pessach

Der eigene Exodus

Wie erlangt der Mensch persönliche Freiheit? Wir haben sechs Jüdinnen und Juden gefragt

von Nicole Dreyfus  22.04.2024

London

Initiative gegen Antisemitismus: Polizeichef soll zurücktreten

Hintergrund ist ein Vorfall bei einer antiisraelischen Demonstration

 22.04.2024

Columbia University

Nach judenfeindlichen Demos: Rabbiner warnt eindringlich

Jüdische Studierende sind auf dem Campus nicht mehr sicher, sagt Elie Buechler

 22.04.2024