Am 7. Oktober 2023, Simchat Tora, also quasi zum Abschluss dieser Feiertagsroutine, geschah für uns alle das Unfassbare, etwas, das wir bis heute nicht verstehen, nicht wahrhaben können. Die Europäische Rabbinerkonferenz bezeichnete Simchat Tora 2023 als »den schwärzesten Tag seit dem Holocaust«. Das war Ausdruck höchster Betroffenheit und brachte eine neue Dimension des Schmerzes und der historischen Verankerung des Geschehens hervor.
In meinem journalistischen Alltag begegne ich oft dem Ausdruck des »schlimmsten Massakers an Juden seit dem Holocaust«. Und obwohl ich ihn ehrlicherweise selbst oft verwende, gebe ich zu, dass ich mich an dieser Formulierung störe – weil sie qualifiziert und quantifiziert. Und jedes Mal frage ich mich, ob man der Trauer, dem Schmerz, der Wut, aber vor allem der Unvorstellbarkeit darüber, dass man diese Grausamkeit, die man verzweifelt in Worte zu fassen versucht, überhaupt gerecht werden kann, selbst wenn das der Job von uns Journalisten ist. Natürlich nicht.
Sorglos war gestern
Ich erinnere mich genau, als ich in den Wochen danach morgens aufgewacht bin und mich gefragt habe: Kann das überhaupt wahr sein? Und jedes Mal war da diese Enttäuschung und Bestürzung, dass der Albtraum Realität war. Ich wusste nicht, wie ich mit diesem Horror umgehen sollte. Das schlechte Gewissen darüber, dass es mir und meiner Familie gut geht, dass wir uns sorglos dem Alltag widmen können, während die Opfer und die Familien der Opfer und Geiseln dies nicht mehr tun können. Nie mehr.
Doch ich muss mich korrigieren. Sorglos war ich nicht. Da waren auf einmal die Ängste der anderen, die über mir hereinbrachen. Darf man seine Kinder noch in die jüdische Kita schicken? Braucht es nicht einen Sicherheitsmann davor? Der Blick nach links und nach rechts, bevor ich die Kleine durch die Schleuse schiebe. Und ohnehin die Frage: Wie spricht man mit den Kindern darüber?
Die Angst der anderen überschattete mich. Wie eine Wolke, die mir mein Sonnenlicht stehlen wollte.
Dann die vielen Veranstaltungen. Sollte ich dort wirklich hingehen? Und was ist, wenn dort jemand die Kontrolle verlieren sollte und austickt? Macht das alles überhaupt Sinn? Die Geiseln bringen wir dadurch ohnehin nicht zurück. Warum setzen wir uns diesem Risiko aus? Dann kam der 2. März. Ein jüdischer Mann wurde auf offener Straße in Zürich niedergestochen. Er überlebte nur knapp. Ich spürte, wie alles immer enger wurde.
Plötzlich kam die Gefahr näher. Sozusagen unmittelbar vor meine Haustür. Irgendwann lag auch noch ein seltsamer Brief bei uns im Briefkasten. Er landete schnell im Altpapier. Doch dann wieder diese Fragen. »Hast du nicht Angst?« Die Angst der anderen überschattete mich. Wie eine Wolke, die mir mein Sonnenlicht stehlen wollte.
Ich bin doch kein ängstlicher Mensch, sagte ich mir. Und ertappte mich dabei, wie ich versuchte, mich neben meinem Beruf, der mich mit all dem tagtäglich konfrontiert, auf meinen Mikrokosmos zu konzentrieren. Auf dem Spielplatz ist die Welt in Ordnung, sagte ich mir. Im Supermarkt auch. Doch bereits die Tatsache, dass ich auf mich selbst einredete, bewies mir, dass die Welt eben nicht in Ordnung war.
Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht realisiert hatte, war, dass wir uns damals erst am Anfang dieser Abwärtsspirale befanden. Mittlerweile prasseln täglich Nachrichten auf mich ein, dass jüdische Menschen weltweit beleidigt, beschimpft, attackiert werden. Damit wird deutlich: Die weiter zunehmenden antisemitischen Angriffe erfordern immer mehr Schutzmaßnahmen. Egal wo.
Schmerzender Spagat
Sätze wie »Jüdinnen und Juden sind nirgendwo mehr sicher« oder »Sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben, wird vielfach von Besorgnis, Zurückhaltung bis Angst begleitet« sind in den Zeitungen zu lesen. Und ich frage mich: Bleibt das jetzt so? Endet es mit dem Krieg, der nicht enden will? Nein, ich will keine Vergleiche zu 1933 ziehen. Und ich will auch weiterhin keine Angst haben. Ich will als jüdischer Mensch weiterleben wie bisher. Aber es ist ein Spagat. Und manchmal beginnt dieser zu schmerzen, als hätte ich mich nicht genug gedehnt.
Zu diesem Spagat gehört auch die Ironie, dass der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 mit einem Fest zusammenfiel, das eigentlich Freude ausdrückt, weil damit Anfang und Ende des Torazyklus markiert werden. Es könnte zynischer nicht sein, dass diese Zäsur beziehungsweise diese Wende für das jüdische Leben exakt an Simchat Tora ihren Anfang nahm.
Der 7. Oktober 2023 hat das Leben jüdischer Gemeinschaften, vor allem in Europa, nachhaltig verändert. Und so wurde Simchat Tora 2023 nicht nur zu einer Zäsur, sondern auch zu einem Symboltag – nicht nur für religiöse Feierlichkeit, sondern für Trauer, Widerstand, Gedenken und Pflichtgefühl. Aber die Trauer und die Freude, die im Judentum ohnehin schon eng miteinander verbunden sind, sind noch ein Stück näher zusammengerückt oder vielleicht gar nicht mehr auseinanderzuhalten.
Mit Licht betrachten
Das fühlt sich für uns an wie Gewichtheben. Also müssen wir lernen, in diesem Kraftakt noch mehr geübt zu sein, besser zu lernen, beides zu ertragen, beides zu leben. Und zwar so, dass wir, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, lachen dürfen, genauso wie wir tief aus uns heraus auch weinen sollten – stets in dem Wissen, dass beides zu uns gehört.
Möglicherweise hat sich der Feiertag weiterentwickelt – von ungetrübter Freude hin zu einer Mischung aus Gedenken, Widerstand und Elementen eines Freudenfestes. Vielleicht haben aber auch wir uns weiterentwickelt, indem wir den Feiertag neu zelebrieren und jener schmerzenden Zäsur mit alldem, was uns Menschen ausmacht, begegnen. Wenn wir dieses Potenzial nutzen, können wir vielleicht auch das neue Jahr mit etwas Licht betrachten. Versuchen wir es.
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