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Ein Jahrhundertleben

Tom Tugend mit dem Autor 2019 in Berlin Foto: Julia Baier

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Ein Jahrhundertleben

Der Journalist Tom Tugend ist im Alter von 97 Jahren in Los Angeles gestorben. Eine persönliche Würdigung

von Benjamin Kuntz  15.12.2022 09:47 Uhr

Das journalistische Schreiben war seine große Leidenschaft, der er bis kurz vor seinem Tod nachging. Tom Tugend war bekannt für seine Filmkritiken, aber er schrieb auch Gesellschaftsporträts und verfasste Nachrufe. Als er am 14. November bei der Jewish Journal Gala im Beverly Hills Hotel in Los Angeles erschien, erhielt er stehende Ovationen – er dürfte der älteste Teilnehmer der Veranstaltung gewesen sein.

Als Thomas Tugendreich kam er 1925 in Berlin zur Welt. Seine Mutter Irene, geborene Fontheim, hatte eine Erzieherinnenausbildung am Pestalozzi-Fröbel-Haus absolviert und vor ihrer Heirat als Jugendamtsleiterin gearbeitet. Sein Vater Gustav Tugendreich war ein renommierter Kinderarzt und Sozialmediziner. Kurz vor Kriegsausbruch gelang der Familie die Flucht vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten. Aus Thomas Tugendreich wurde Tom Tugend.

SOLDAT Keine 20 Jahre alt, ging er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat nach Deutschland. Dorthin, wo man ihn 1939 noch als »verdammten Judenjungen« beschimpft hatte, kam er sechs Jahre später zurück, um in Heidelberg als Vernehmer für den Geheimdienst der US-Armee zu arbeiten. Er erhielt den Auftrag, überzeugte Nationalsozialisten in den umliegenden Dörfern aufzuspüren. Es habe überall in Deutschland geheißen: »Ich war kein Nazi, aber mein Onkel oder mein Schwager schon.« Eines Tages verhörte er einen alten, blinden Mann, der immer noch Hitler ergeben war und freimütig zugab: »Jawohl, ich glaube immer noch an den Endsieg.« Da berichtete Tom seinem Vorgesetzten, dass er soeben den einzigen Nazi in Deutschland gefunden hätte.

Nachdem er 1948 auch im israelischen Unabhängigkeitskrieg und Anfang der 50er-Jahre im Koreakrieg gedient hatte, begann Tom Tugend seine journalistische Karriere beim »San Francisco Chronicle«. Anschließend studierte er in Spanien und arbeitete für Associated Press und als Redakteur einer englischsprachigen Wochenzeitung. Schließlich wurde er Wissenschaftsautor und Kommunikationsdirektor an der University of California, Los Angeles (UCLA), während er als freier Journalist unter anderem für die Jewish Telegraphic Agency, die »Jerusalem Post« und den »Jewish Chronicle« arbeitete.

Nachdem er 1948 auch im israelischen Unabhängigkeitskrieg und Anfang der 50er-Jahre im Koreakrieg gedient hatte, begann Tom Tugend seine journalistische Karriere.

Ich habe Tom vor fünf Jahren kennengelernt, als ich für eine Biografie über seinen Vater recherchierte. Aus dieser Zufalls­bekanntschaft entwickelte sich ein intensiver Austausch und schließlich eine ganz besondere Freundschaft – trotz 60 Jahren Altersunterschieds. Tom stellte mir für das kleine Büchlein über seinen Vater, das 2019 als »Jüdische Miniatur« bei Hentrich & Hentrich erschien, Informationen und Fotos zur Verfügung.

BERLIN Als Journalist war Tom in den 90er-Jahren mehrmals in Berlin gewesen. Im Juli 2019 kam er das letzte Mal. Ich hatte ihm von dem Projekt der Stolpersteine erzählt und gefragt, ob es ihm gefallen würde, wenn solche vor dem ehemaligen Wohnhaus seiner Familie in der Reichsstraße in Charlottenburg verlegt würden. Ihm gefiel die Idee. Und so reiste er zur Verlegung mit seiner Tochter an.

Nach der Zeremonie lud ihn eine heutige Bewohnerin des Hauses ein. Er konnte die ehemalige Wohnung seiner Familie wiedersehen und stand als 94-Jähriger zum ersten Mal wieder auf dem Balkon, von dem aus er mehr als 80 Jahre zuvor eine der berüchtigten Paraden der Nationalsozialisten gesehen hatte.

Während seines langen Journalisten­lebens hat Tom Tugend viele berühmte Menschen getroffen. Aus Hollywood kannte er unter anderem Regisseur Steven Spielberg und den Schauspieler Kirk Douglas persönlich und spielte mit dem Chemie-Nobelpreisträger Paul D. Boyer regelmäßig Tennis. Dabei war er selbst äußerst bescheiden und suchte die große Bühne nicht. Obwohl er neugierig war, blieb er lieber im Hintergrund. Er war feinsinnig und nachdenklich, mit einem großen Sinn für Humor. Persönliche Krisen hatte er gemeistert, und so strahlte er auf beeindruckende Weise eine große Lebenserfahrung aus.

Vergangene Woche ist Tom Tugend im Alter von 97 Jahren in seinem Haus in Los Angeles gestorben. Er hinterlässt seine Frau Rachel, mit der er seit 66 Jahren verheiratet war, sowie seine drei Töchter, acht Enkelkinder und einen Urenkel.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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