Über eine Milliarde Nutzer hat Telegram. Mindestens hundert Kinder will Telegram-Gründer Pawel Durow gezeugt haben. Und 25.000 Euro pro Nacht habe das von Karl Lagerfeld designte Hotelzimmer gekostet, in dem Durow nach seiner kurzzeitigen Verhaftung im Sommer 2024 in Paris wohnte.
Viele hohe Zahlen sollen am Anfang des Neunzigminüters, den die Berliner Exil-Russen Aleksandr Urzhanov und Igor Sadreev für den RBB gedreht haben, auf Durow gespannt machen. Das mag großspurig anmuten, ist aber berechtigt. Kritische Aufmerksamkeit verdient Telegram - diese Mischung aus Messengerdienst und Social-Media-Plattform - auf jeden Fall. Nicht allein, aber auch, weil sie vor allem in dubiosen Zusammenhängen immer mal wieder auftaucht.
Verhaftet wurde Durow, weil Telegram illegale Inhalte nicht schnell genug entfernte und Anfragen französischer Justizbehörden, etwa wegen des Verdachts auf Kinderpornografie, nicht nachkam ist. In Deutschland erregten die »Strg_F«-Recherchen des ARD-ZDF-Angebots funk über ein Vergewaltigernetzwerk Aufsehen, das via Telegram operierte und dort Aufnahmen teilte. Als IS-Terroristen weite Teile Iraks und Syriens besetzt hatten, verbreiteten sie auf Telegram Videos von geradezu hollywoodmäßig inszenierten Hinrichtungen in alle Welt.
Die App der Opposition
Andererseits wird Telegram in Russland außer von der staatlichen Propaganda und kriegstreibenden Influencern aber auch von der Opposition genutzt. Das bekräftigt Galina Timtschenko, die Herausgeberin des Exilmediums »Meduza«. Ähnlich verhält sich das etwa im Iran und in Belarus. Und selbst in der Ukraine, die im inzwischen langjährigen Krieg sämtliche Gemeinsamkeiten mit dem Aggressor Russland meidet, wird Telegram weiter eingesetzt.
Kurzum: Der Kommunikations- und Mediendienst, der vermutlich am ehesten von Durows mutmaßlichem Wohnsitz Dubai aus gelenkt wird, ist nicht nur formal schwer zu definieren, sondern in jeder Hinsicht schwer zu fassen. Man kann ihn wie ein Küchenmesser nutzen, sagt Timtschenko, also zu praktischen und guten Zwecken - und genauso zu mörderischen.
»Beunruhigt es Sie, dass der IS Telegram benutzt?« - »Das tun sie.« - »Beunruhigt es Sie?« - »Das ist eine gute Frage«, beantwortet Durow routiniert-gewunden auf Englisch eine Interviewfrage auf der Bühne einer »Techcrunch«-Diskussion 2014 in San Francisco, um anschließend so von »Privatsphäre« zu reden, als würde er sie allen Menschen zu jeglichen Zwecken gönnen und sich um alles übrige nicht kümmern.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Durow gerade sein erste Gründung, das gern als »russisches Facebook« apostrophierte Netzwerk VK, für viel Geld verkaufen können und Russland verlassen - nach einer Hausdurchsuchung durch bewaffnete Polizisten. Der Hintergrund: Als Wladimir Putin sich in Russland quasi zum Alleinherrscher machte, wollte Durow vermutlich nicht im gewünschten Ausmaß kooperieren und verließ lieber das Land. Und weil es damals in Russland keine vertrauliche Kommunikation gab, habe er eben einen neuen Messenger entwickelt. So lautet das Gründungs-Narrativ von Telegram, das Durow auch in San Francisco verbreitete.
Nutzung zu kriminellen Zwecken
Sich in Szene zu setzen, darauf versteht sich Durow sich mindestens so gut wie seine US-amerikanischen »Tech-Bros« Elon Musk und Mark Zuckerberg, mit denen ihn vieles bis hin zum Libertarismus als Weltanschauung verbindet. Andererseits trennt ihn sein Lebensweg bis in die Gegenwart von solchen im Vergleich zu ihm auf Watte gebetteten Tech-Milliardären. Schon bevor sie sich US-Präsident Donald Trump an den Hals warfen, waren Musk und Zuckerberg als US-Amerikaner vor Verhaftungen und anderer Unbill überall ziemlich sicher. Auch wenn ihre Plattformen immer wieder viel Kritik hervorrufen.
Der Film taucht auch in die zeitweise von Armut geprägte Kindheit und Jugend Durows und seines Bruders Nikolaj in St. Petersburg ein. Während Putin aufstieg und bei allen, die schnell reich wurden, mitkassierte, entwickelten die Durows aus einem 9-Quadratmeter-Büro heraus Russlands größtes soziales Netzwerk. Erfolg hatte VK nicht zuletzt deshalb, weil es sowohl Urheberrechtsverletzungen als auch Nutzung zu noch viel kriminelleren Zwecken akzeptierte.
Falls das aus Überzeugung, statt aus Opportunismus geschah, ist Pawel Durow diesen Prinzipien treu geblieben: Telegrams Ruf profitiert immer noch vom Versprechen komplett geschützter Privatsphäre - obwohl das inzwischen nicht mehr stimmt und wahrscheinlich nie gestimmt hat. Zumindest wurden die Datenschutzrichtlinien unmerklich verändert. Inzwischen behält sich Telegram die Übergabe von Daten wie Telefonnummern und IP-Adressen an Behörden vor. Und darauf, dass sich dieses Zugeständnis an die Behörden nur auf demokratische Staaten wie Frankreich bezieht (wo Durow nach seiner Verhaftung solche Zugeständnisse vermutlich machte), deutet nichts hin.
Unberechenbarer Besitzer
Nicht überraschend ging das »mysteriöse Genie«, wie sein Biograf Nikolaj Kononow ihn nennt, auf Interview-Anfragen nicht ein. Insofern schlüsselt der Dokumentarfilm transparent auf, was sich aus vielen Quellen, bei denen es sich oft um Selbstdarstellungen Durows und seiner Weggefährten auf unterschiedlichen Plattformen handelt, zusammentragen lässt. Damit regt der Film auch Fragen an, die über den teilweise typischen, teilweise ausgesprochen untypischen Internet-Oligarchen hinausweisen.
Telegram ist ein Netzwerk im Privateigentum eines unberechenbaren Besitzers. Es wird sowohl zu vielen eindeutig üblen Zwecken als auch in ganz unterschiedlichen, oftmals nicht demokratischen Staaten als sinnvolle Infrastruktur genutzt. Das stellt ein Problem dar - das die viel größeren Netzwerke Facebook, Instagram und Tiktok freilich ganz ähnlich betrifft.
Verdient Durow also mehr Kritik als Musk und Zuckerberg, die inzwischen handfeste Profit-Vorteile aus ihrer Nähe zum US-Präsidenten ziehen? Während Durow sich Putin einst nicht anpasste, sondern in ein oftmals hochglamouröses, aber unsichereres Exil zog? Das ist nur eine der Fragen, die »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« aufwirft, ohne sie explizit zu stellen. Immerhin in Sachen Vaterschaft sieht man am Ende klarer - bei den meisten der 100 Kinder war Durow wohl als Samenspender im Einsatz.