USA

Düsterer »Nice Jewish Boy«

Draußen ist es hell, der Himmel ist blau, der See noch blauer. Menschen lachen, irgendwo klirren Gläser, und drinnen in der Seele lauern die Schatten und Ängste wie dunkle Käfer. Manchmal reißen sie uns in Abgründe, manchmal nicht. In Ari Asters Filmen fallen die Menschen immer.

Er drehe Filme über »schreckliche Dinge«, sagte der Filmregisseur unlängst dem »Hollywood Reporter« – über verdrängte Ängste, Kindheitstraumata, Besessenheiten und Erlebnisse, die am liebsten alle vergessen würden, doch sie haben ihre Spuren hinterlassen und holen den, der sie loswerden will, immer wieder ein. Wie die Covid-Pandemie, um die es in Asters neuem Film Eddington geht, ein moderner Western, der diesen Frühling auf dem Filmfest in Cannes vorgestellt wurde. In den Hauptrollen: Joaquin Phoenix, Pedro Pascal und Emma Stone.

In der gleichnamigen Kleinstadt in New Mexico ist jeder der Charaktere auf seine Weise süchtig nach Social Media. Sie leben in verschiedenen inneren Welten, können einander nicht erreichen. Keiner seiner Filme widme sich so sehr der Gegenwart wie dieser, sagt Aster. Die Menschen hätten den Lockdown noch immer nicht verdaut, erst recht nicht die gesellschaftlichen Veränderungen und sozialen Eruptionen, die sie seitdem erschüttern, von BlackLivesMatter bis zur erneuten Wahl Trumps, der zunehmenden Spaltung der hyperindividualistischen Gesellschaft und dem Doomscrolling und der Gleichgültigkeit einer Politik, die der Macht des Hightech nichts entgegenzusetzen hat.

Ari Aster, der am 15. Juli 39 Jahre alt wird, trägt Hornbrille, Bart und ein freundliches Lächeln und wird von Kritikern gern als der »nice Jewish boy« von nebenan beschrieben – wenn auch mit dunklen Geheimnissen und Affinität zum Horror.

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Aster wurde in New York geboren, seine Mutter ist Dichterin und visuelle Künstlerin, der Vater Jazzmusiker. Aster beschreibt seine Eltern als unkonventionell und kreativ und als größten Einfluss auf sein Leben. Nach der Geburt zog die Familie nach Chester in Großbritannien, wo der Vater einen Jazzklub eröffnete. Als Aster zehn Jahre alt war, ging es zurück in die USA, diesmal nach Santa Fe in New Mexico. Nach der Schule studierte er Film am Stadt-College, danach am American Film Institute Conservatory, wo er begann, Drehbücher für Kurzfilme zu schreiben. Mit dem Short The Strange Thing About the Johnsons kam 2011 der Durchbruch. Agenten warben um ihn, und der Weg zum ersten eigenen Langfilm war geebnet.

Angst vor »Dick Tracy«

Bereits als Kind habe er zusammen mit seiner Mutter Erwachsenenfilme gesehen, meist Klassiker und viel Surreales, Horror, oder Krimis, Lars von Trier, Ingmar Bergman, David Lynch und Stanley Kubrick, erzählt Aster über sich. Und immer wieder den Zauberer von Oz. Rätselhafte alte Literatur habe er gelesen wie Vergils Aeneis, Cervantesʼ Don Quijote, die Werke von Franz Kafka und Jorge Luis Borges. Vieles aus dieser Zeit findet sich in seinen Filmen wieder, die starken Graffiti-Farben der Kulissen, die dunklen Seelen, die Abgründe.

Sogar an den ersten Film seines Lebens erinnert er sich: Er sei vier gewesen, als er Warren Beattys Dick Tracy gesehen habe, und bei einer Schießerei mit Maschinengewehren sei er vor Schreck aus dem Kinosaal gerannt, hinaus auf die Straße, und wurde fast von einem Auto überfahren. Erst sechs Straßen weiter habe seine Mutter ihn wieder eingefangen. Nichtsdestotrotz, mit seiner Mutter teile er den Geschmack in fast allem, vor allem im Film, sagt Aster.

Seine Filme sind wie der Blick auf eine fremde Welt durch vertraute Fenster.

Was ist die Gegenwart, woher kommt sie, wohin bewegt sie sich? Asters Filme zu schauen, ist ein wenig so, als blicke man durch alte, verzierte und vertraute Fenster auf eine Welt, die fremd ist. Dabei ist es egal, ob sie immer schon fremd war oder fremd geworden ist. Bevor er die Dreharbeiten zu einem Film beginne, denke er oft jahrelang nach, sagt Aster. Er lese, recherchiere minutiös alte Legenden, Literatur, Popkultur und Psychologie, reise auf der Suche nach Drehorten.

Aster arbeitet mit Traumata, die ganze Generationen umfassen, mit Schizophrenie und der Verwirrung des Geistes, und kreiert so eindringlichen, dunklen und neuartigen Horror. Filmkritiker haben dafür schon die Namen »art horror« oder »smart horror« geschaffen. Manchmal fügt er eine Prise Witz hinzu, obwohl Aster nichts schrecklicher findet als pseudo-komische Schöntuerei im Film.

The Strange Thing about the Johnsons erzählt von der inzestuösen Beziehung eines Vaters zu seinem missbräuchlichen Sohn, in Hereditary (2018) bricht die düster-dräuende Vergangenheit in einen Familienalltag und zerstört alles. In Midsommar (2019), einem lichtdurchfluteten Hybrid aus College-Film und nordischem Volkstums-Horror, trifft eine Gruppe amerikanischer Doktoranden auf Forschungsurlaub in Schweden auf religiöse Fanatiker, und ein geheimes Fest mit Trance und Rausch wird zum blutigen Horrortrip. Beau is Afraid, wie Eddington mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle, ist eine innere, hoffnungslose wie surreale Odyssee eines Mannes mit Mutterkomplex.

Klischeehaft dominant-neurotische jiddische Mamme

Asters Werk liegt irgendwo zwischen Mainstream und Autorenkino, immer schreibt er die Drehbücher selbst. Die innovative New Yorker Filmproduktionsgesellschaft A24 hat ihm ein Zuhause gegeben. So ist es dem jungen Regisseur gelungen, das ziemlich ausgeleierte Horror-Genre wieder attraktiv und ästhetisch zu machen, während gleichzeitig die glimmende Stimmung antiquierter Märchen durchscheint.

Asters Filme sind nicht explizit »jüdisch« – auch wenn die Hauptfigur in Beau is Afraid eine klischeehaft dominant-neurotische jiddische Mamme hat, Aster selbst von dem Film als »big Jewish comedy« spricht und die historische Last des Holocaust im Sinne von unverwundenen Traumata sicherlich hier und da nachhallt. Trotzdem gilt Aster vielen als talentvolle jüdische Lichtgestalt in dunklen Zeiten, insbesondere seit dem 7. Oktober 2023. Im Mai dieses Jahres wurde sein Werk im American Jewish Heritage Month geehrt.

Asters Filme sind sachte biografisch, Hereditary verarbeite eine Familientragödie, über die er nicht sprechen möchte, heißt es. Midsommar wiederum läge Asters Trennung von einer Frau zugrunde, über die er ebenfalls nichts preisgibt. Er liebe seine Arbeit, sagt Aster immer wieder, und die Arbeit hört nie auf. Nach jedem abgeschlossenen Film habe er eine dunkle, depressive Phase. Das warʼs, der Film ist vorbei, denke er dann. Und fängt wieder von vorn an.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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