USA

Die Lehre aus Charlottesville

12. August 2017: Weiße Nationalisten bei Protesten in Charlottesville, bei denen eine Gegendemonstrantin getötet wurde Foto: Getty

Es gibt in Charlottesville, Virginia, auch eine Synagoge. Man ist versucht zu sagen: Natürlich gibt es dort eine Synagoge. In den amerikanischen Südstaaten existieren viele alteingesessene jüdische Gemeinden; es gab sie schon vor dem Bürgerkrieg. Die weißen Südstaatler waren Rassisten – aber interessanterweise keine Antisemiten.

Die Confederate States of America, jenes rassistische Utopia, das 1865 von den Yankees aus dem Norden besiegt wurde, hatten sogar einen jüdischen Kriegsminister: Judah P. Benjamin. Nachdem Abraham Lincolns Soldaten die Rebellen im Süden der USA besiegt hatten, floh er nach Großbritannien. Aber das ist eine andere Geschichte.

Angst Heute haben die Juden in Charlottesville Angst, und dafür gibt es Gründe. In der vergangenen Woche waren vor dem Haupteingang ihrer Synagoge Männer in weißen Hemden und Khakihosen aufmarschiert. Sie trugen Waffen, und sie verhöhnten die Juden. Sie äfften den Akzent von Brooklyn nach, sie verspotteten jiddische Ausdrücke. Die Juden mussten den Hinterausgang zu dem Parkplatz nehmen, wo ihre Autos stehen.

Dieser Parkplatz ist nicht weit von dem Standbild von Robert E. Lee entfernt: Der General der Rebellenarmee reitet dort immer noch auf seinem Pferd frohgemut der Zukunft entgegen. Viele Südstaatler verehren ihn immer noch wie einen Helden. Dabei war Lee ein grausamer Sklaventreiber, der schwarze Familien auseinanderriss. Er war davon überzeugt, dass die Sklaverei ein notwendiges Übel sei, um die Schwarzen auf den Plantagen zu »erziehen«. Und er hat nach dem Bürgerkrieg kein Wort gegen Anstrengungen seiner ehemaligen Waffenbrüder gesagt, sich in einem Guerillakrieg gegen die Vereinigten Staaten zu erheben.

Jene Anstrengungen führten zur Gründung des Ku Klux Klan, einer Terrororganisation, die mehr Amerikaner ermordet hat als Al Qaida – nicht nur Schwarze, sondern auch Juden. 1913 wurde Leo Frank gelyncht, im Juni 1964 wurden Andrew Goodman und Mickey Schwerner zusammen mit ihrem schwarzen Freund James Cheney in Mississippi entführt und ermordet.

Terror Für amerikanische Juden waren die vergangenen zwei Wochen ziemlich lehrreich. Ein junger Mann, der, nach Aussagen seines Geschichtslehrers, die Nazis bewundert, ließ sich vom Beispiel islamistischer Terroristen inspirieren und fuhr mit seinem Wagen in eine Menge von Leuten, die friedlich gegen den Rassismus demonstrierten. Er verletzte viele, einige davon schwer, und ermordete die Demonstrantin Heather Heyer.

Der amerikanische Präsident äußerte danach, unter den Neonazis und Rassisten habe es auch ein paar »sehr gute Leute« gegeben, und irgendwie seien beide Seiten schuld. Und Jared Kushner, sein jüdischer Schwiegersohn, und seine zum Judentum konvertierte Tochter Ivanka? Sie waren im Urlaub. Ivanka setzte einen kurzen Tweet ab, in dem es hieß, für Rassismus »sollte es in der Gesellschaft keinen Platz geben«. Das war alles.

Sklaverei Welche Lehren können amerikanische Juden daraus ziehen? Die erste Lektion betrifft sie ebenso wie alle Amerikaner – und sie ist sehr einfach: Wir haben den amerikanischen Bürgerkrieg in Wahrheit nie zu Ende geführt. Es gibt einen Grund, warum in den amerikanischen Südstaaten immer noch Statuen von Robert E. Lee, P.T.G. Beauregard und Nathan Bedford Forrest herumstehen, es in Deutschland aber keine Reiterstandbilder gibt, die Erwin Rommel, Karl Dönitz oder Friedrich Paulus verewigen.

Nazideutschland war 1945 militärisch tatsächlich besiegt; es lag in Staub und Ruinen. Keiner von den Alliierten wäre auf die wahnsinnige Idee gekommen, die Deutsche Wehrmacht als einen Gegner zu behandeln, der zwar für die falsche Sache, aber doch ritterlich gekämpft habe.

Dagegen wurden jene Rebellen, die sich gegen die Vereinigten Staaten erhoben hatten, um die Sklaverei zu verteidigen, wie Waffenbrüder behandelt. Dies galt vor allem, nachdem Abraham Lincoln von einem Rassisten ermordet worden und die »reconstruction«, also Umerziehung, der Südstaaten gescheitert war.

Plantagen
Es ist höchste Zeit, die Sache jetzt – mit der kleinen Verspätung von 152 Jahren – zu Ende zu bringen. Also: Die Konföderiertenstatuen sollen purzeln, so wie nach 1989 die Leninstandbilder gepurzelt sind. Jeder soll wissen, dass wir Amerikaner einst so etwas wie den Gulag im eigenen Land hatten: die Plantagen in den Südstaaten. Und dass alle Weißen, auch in den Nordstaaten, von diesem Gulag profitiert haben.

Weg mit der Geschichtslüge von der edlen Konföderiertenarmee! In Wahrheit hat sie schwarze Soldaten massakriert, wo sie nur konnte, und ein regelrechtes KZ für Kriegsgefangene aus dem Norden betrieben: Andersonville.

Und reden wir offen darüber, ob wir heutigen Amerikaner den Nachkommen der Sklaven von damals nicht wenigstens eine symbolische finanzielle Entschädigung schulden. Das hat selbstverständlich nichts mit persönlicher Schuld zu tun (ein Überlebender des Holocaust, der 1948 in die USA eingewandert ist, trägt keine Schuld an Verbrechen, die im 19. Jahrhundert von ganz anderen Leuten begangen wurden). Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung; um eine Wunde, die unter dem dreckigen Verband, der ihr angelegt wurde, nie verheilt ist, sondern immer weiter eitert.

Die zweite Lektion betrifft Juden sehr spezifisch: Die Zeiten, in denen die Konföderierten die Kinder Israels noch als Weiße sahen – die Zeiten, in denen ein Judah P. Benjamin Kriegsminister werden konnte – sind passé.

Die amerikanischen Rassisten haben leider von den deutschen Nazis gelernt. Für sie sind Juden Verräter an der weißen Rasse, keine Ehrenarier. Wer versucht, sich diesen Leuten anzubiedern, ist nicht nur moralisch bankrott, er ist vor allem dumm. Und jene paar Juden, die jetzt immer noch auf Trump setzen, müssen sich fragen lassen, wo sie die vergangene Woche verbracht haben: hinter dem Mond?

Die dritte Lektion lässt für die Zukunft der amerikanischen Republik hoffen. Endlich fangen auch ein paar Republikaner, die nicht John McCain heißen, an, gegen diesen Präsidenten zu revoltieren.

Ein Drittel der Amerikaner hält unverdrossen weiter zu ihm, aber jene, die Trump und seine Verbündeten abscheulich finden, sind in der Mehrzahl. Das bekamen auch die Juden von Charlottesville zu spüren: Bewohner der Stadt besuchten sie in der Synagoge und versicherten sie ihrer Solidarität.

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