Interview

»Die IHRA-Definition ist Standard für das Erkennen von Antisemitismus«

Michaela Küchler Foto: screenshot

An diesem Donnerstag übergibt Deutschland nach einem Jahr den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) an Griechenland. Die Institution möchte Bildung, Erinnerung und Forschung zum Holocaust sowie zum Völkermord an den Sinti und Roma fördern.

Zum Abschluss zieht die Leiterin der deutschen IHRA-Delegation, Botschafterin Michaela Küchler, in unserem ausführlichen Interview eine positive Bilanz und blickt zugleich besorgt auf die Entwicklung der Feindschaft gegenüber Juden sowie Sinti und Roma in Deutschland und Europa.

Frau Botschafterin Küchler, der deutsche IHRA-Vorsitz fiel in die Zeit der Corona-Pandemie. Was bedeutete das für Ihre Arbeit?
Als wir im März 2020 den Vorsitz übernahmen, war das die letzte Präsenzveranstaltung des Auswärtigen Amtes in dieser Größe. Wir haben danach alle Veranstaltungen digital durchgeführt, auch die internationalen Plenarversammlungen in Berlin und Leipzig. Es war herausfordernd, über so viele Zeitzonen hinweg - von Australien bis an die Westküste Kanadas - alle unter einen Hut zu bringen.

Hat die Pandemie dazu geführt, dass manche Ihrer Vorhaben nicht umgesetzt werden konnten?
Glücklicherweise konnten wir trotz dieser besonderen Zeiten alles, was wir uns vorgenommen haben, über die Ziellinie bringen. Einige Punkte, wie die unter unserem Vorsitz erarbeiteten Empfehlungen im Umgang mit Holocaust-Verharmlosung, werden jetzt vom nächsten Vorsitz Griechenland weiter umgesetzt. Dabei werden wir selbstverständlich weiter unterstützen.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erfolge?
Das ist zum einen die Verabschiedung der Arbeitsdefinition Antiziganismus am 8. Oktober. Zum anderen auch die erwähnten Empfehlungen, wie man Holocaustverharmlosung erkennen und ihr entgegenwirken kann. Diese wurden als Teil einer »Global Task Force against Holocaust Distortion« erarbeitet, die von Außenminister Heiko Maas im Januar 2020 angeregt wurde.

Können Sie Beispiele dafür nennen?
Holocaustverfälschung und -verharmlosung ist ein Problem, das wir vermehrt in der Pandemie sehen, auch wenn es sich schon vorher abgezeichnet hat. In Deutschland trugen Menschen auf Corona-Demos nachgebildete gelbe »Judensterne« mit der Aufschrift »ungeimpft«. Und bei der Erstürmung des Kapitols in Washington trug jemand ein T-Shirt mit der Aufschrift »Camp Auschwitz« - als ob das ein Feriencamp wäre.

Was folgt aus der Einrichtung der »Global Task Force« für die Praxis?
Die von uns am 19. Januar vorgestellten Empfehlungen müssen jetzt umgesetzt werden, wobei wir uns weiter engagieren wollen, auch finanziell. Wir werden Seminare für die Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes anbieten, die dann in ihren jeweiligen Ländern mit Multiplikatoren die Themen aufnehmen. Das soll dabei helfen, antisemitischen Entwicklungen entgegenzuwirken. Die USA machen etwas Ähnliches, auch andere Länder möchten mitmachen. Ich hoffe, dass das weiter Schule macht und die Aufmerksamkeit geschärft wird.

Sie hatten auch angekündigt, mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zusammenarbeiten zu wollen.
Im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft hat die EU-Kommission in Zusammenarbeit mit der IHRA und dem Auswärtigen Amt ein Handbuch zur Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition zu Antisemitismus herausgegeben. Darüber hinaus hat die IHRA ihre Kooperation mit internationalen Partnern wie der Unesco und den Vereinten Nationen intensiviert. Am 27. Januar haben wir zum internationalen Holocaust-Gedenktag eine gemeinsame Veranstaltung organisiert, auf der auch die Bundeskanzlerin zu Wort kam. Mit diesen Partnern und der EU haben wir zudem die Kampagne #ProtectTheFacts gestartet. Auch hier haben wir hochrangige Unterstützung von Außenminister Maas bekommen.

Und in Deutschland?
Wir haben verschiedene Einrichtungen, jüdische Gemeinden, Kulturprogramme, Gedenkveranstaltungen oder auch die Stolpersteinaktion auf unserer Internetseite vorgestellt. Wir wollten zeigen, wie Deutschland mit der Erinnerung an den Holocaust umgeht. Das wurde gut angenommen. Auch wollten wir dadurch die Arbeit der IHRA in Deutschland bekannter machen. Und wir haben uns Gedanken darüber gemacht, wie künftig die Erinnerungskultur gestaltet werden kann, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Da werden neben diversen Publikationen auch digitale Formate und neue Konzepte von Gedenkstätten und Museen eine große Rolle spielen.

Zur Zeit Ihres Vorsitzes hat auch der Weltrat der Imame die IHRA-Arbeitsdefinition zu Antisemitismus angenommen.
Es ist sehr gut, dass sich die muslimische Welt dazu bekennt, dass Antisemitismus ein No-Go ist. Zuerst bekannten sich verschiedene Staaten zu der Definition, und jetzt sind es vermehrt auch Organisationen der Zivilgesellschaft, Verbände oder große Fußballclubs. Ich begrüße das sehr. Die Definition ist insgesamt zu dem Standard für das Erkennen von Antisemitismus geworden. Auch die Antisemitismusbeauftragten der Länder spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Wie viele Staaten und Institutionen haben die Definition bislang angenommen?
Alle 34 Mitgliedsstaaten der IHRA haben die Arbeitsdefinition zu Antisemitismus angenommen. In 22 davon gibt es zusätzlich auf nationaler Ebene Beschlüsse zur Anwendung der Definition. Hinzu kommen Staaten außerhalb der IHRA, zum Beispiel Zypern. Die Zahl der Institutionen kann ich nicht abschließend sagen. Es sind glücklicherweise sehr viele: Das reicht in Deutschland vom Imkerverein über die Blasmusikkapelle bis hin zu Industrie- und Handelskammern und Universitäten. In England war es die Premier League, in den USA verschiedene Städte und Gemeinden. Gerade über den Sport und andere Vereine findet der Kampf gegen Antisemitismus in der Zivilgesellschaft mehr Gehör.

Die IHRA-Definitionen sind ja rechtlich nicht bindend. Was heißt es also konkret, wenn Staaten oder Institutionen sie annehmen?
Man schafft zunächst eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für die Angriffe auf Juden sowie Sinti und Roma. Es soll ein Bewusstsein in weiten Kreisen der Gesellschaft dafür geschaffen werden, dass es ein Problem gibt. Auch sind die Definitionen eine Hilfestellung bei der Beurteilung von Vorfällen oder Übergriffen, so berichten es uns zum Beispiel deutsche Staatsanwaltschaften.

Wie groß ist das Problem von Judenfeindschaft und Feindschaft gegenüber Sinti und Roma aktuell in Deutschland und Europa?
Es schmerzt mich, das zu sagen, aber wir sehen hier überall eine Zunahme - nicht zuletzt durch Attentate wie in Hanau und Halle und auch im Ausland. Das ist eine besorgniserregende Situation. Auch bin ich der Überzeugung, dass Antisemitismus ein Türöffner für andere Formen von Hass und Ausgrenzung ist. Das spaltet die Gesellschaft und gefährdet letztlich die Demokratie. Wir alle stehen hier in der Verantwortung und müssen wachsam bleiben.

Mit der Sonderbeauftragten für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswärtigen Amt sprach Leticia Witte.

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