Ungarn

Die Herren vom Schtiebl

Unterschied: Größer als das Teleki-Schtiebl sind die Synagogen im jüdischen Viertel. Foto: Marco Limberg

Ungarn

Die Herren vom Schtiebl

Eine Gruppe junger Männer saniert ein altes Bethaus in Budapest

von Eszter Margit  22.06.2010 07:25 Uhr

Andras Mayer (38) möchte dem Schtiebl am Teleki-Platz wieder zu Ansehen und Ehren verhelfen. Fremdenführer lassen die kleine Synagoge auf ihrer Tour zu den jüdischen Sehenswürdigkeiten der Stadt normalerweise links liegen. Doch jetzt wird sie saniert. »Was immer getan werden muss, wir werden es tun«, betont Mayer. Er gehört zu einer Gruppe junger Intellektueller, die den Gottesdienst des Schtiebls im Zentrum der ungarischen Hauptstadt regelmäßig besucht. »Wir haben den kulturellen Auftrag, diesen letzten Rest einer beinahe gänzlich untergegangenen Kultur zu dokumentieren.

Ein Chabad-Rabbiner und einige ältere Juden unterstützen Mayer und die Gruppe von jungen, nicht übermäßig Frommen in ihrem Bemühen, das etwa hundert Jahre alte Schtiebl zu restaurieren. »Jeden Schabbat zwischen neun und elf Uhr wurden wir religiös, um den alten Leuten zu helfen, die hier beteten«, erzählt Mayer. Lächelnd fügt er hinzu: »Sie sind längst nicht mehr hier, aber wir kommen immer noch und locken sogar Frauen und Kinder an.« Trotz ihrer zentralen Lage wird die orthodoxe Synagoge von der ungarischen jüdischen Gemeinschaft nur am Rande wahrgenommen, denn das Viertel, in dem sie steht, ist eines der ärmsten Budapests. Die Synagoge wurde lange vernachlässigt. Die jungen Leute, die vor zehn Jahren anfingen, sie wieder zu besuchen, nutzten die Chance, daraus eine relativ unabhängige Gemeinde für sich selbst zu machen.

Die Ungarische Orthodoxe Union hilft bei der grundlegenden Finanzierung der Synagoge und bezahlt die Rechnungen. Der Minjan versammelt sich am Schabbat und an den wichtigsten Feiertagen. Teleki ist, nach Aussagen von Mitgliedern, die einzige Synagoge in Ungarn, in der nach sefardischem Ritus gebetet wird, mit zusätzlichen Melodien, die es nur in dieser Gemeinde gibt.

Geschichte Nach 1850 siedelten sich arme jüdische Immigranten in Teleki an. Die meisten von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt auf dem Krämermarkt, wo sie Ramschwaren, Gänse, Gewürze, Gemüse und Teppiche verkauften. Das Schtiebl war eine von 17 Synagogen in dem Bezirk, von denen jede ihre eigene Gruppe von Kaufleuten als Mitglieder rekrutierte. Bei den Pogromen im Oktober 1944 wurden einige kleine Schtieblach zerstört. Bemerkenswerterweise setzte sich eine Gruppe junger Zionisten in einem Wirtshaus für Markthändler zur Wehr und verwundete eine Handvoll deutscher Soldaten.

Laut Peter Stein, dessen Familie das Schtiebl seit fünf Generationen besucht, wurde das Bethaus von Tschortkower Chassidim aus Galizien um die Wende zum 20. Jahrhundert gegründet. In seiner Kindheit in den 50er-Jahren sei das Schtiebl immer voll gewesen. Stein erinnert sich, wie sein Vater immer erzählte, er sei, als er 1945 aus Auschwitz zurückkehrte, zuerst zum Schtiebl geeilt, um zu sehen, ob es noch da war, bevor er nach Hause ging. Bis in die 90er-Jahre, als sich überall sonst in Ungarn eine jüdische Renaissance ereignete, waren die letzten Juden aus dem Bezirk weggezogen und die Schtieblach sowie andere jüdische Einrichtungen geschlossen.

Das Bethaus am Teleki-Platz ist die letzte funktionierende Synagoge im Viertel. In ihr sind auch die Überreste aus den anderen Bethäusern untergebracht: kabbalistische Gemälde, Kultgegenstände, Torarollen, alte Sessel und Kronleuchter. »Wir waren überrascht, als wir nicht nur eine wunderschöne Bima, zerbröselnde Bücher und Gebetspulte entdeckten, sondern auch Koffer voller Kleider und Schuhe, Kalender, Geschirr und andere persönliche Gegenstände aus der Zeit der Schoa«, erzählt Mayer.

Hilfe Die Ungarische Orthodoxe Union spendierte ein paar tausend US-Dollar für einen neuen Außenanstrich des Schtiebls, doch die Gemeindemitglieder suchen dringend weitere finanzielle Zuwendungen, um die Torarollen zu reparieren und Heizkörper, eine Toilette und eine Küche einzubauen. Sie wollen Torakurse unter der Leitung des Chabad-Rabbiners Sholom Hurwitz einrichten, der zum religiösen Führer der Gemeinde wurde, obwohl das Schtiebl der Lubawitscher Bewegung nicht angeschlossen ist. Die Frau des Rabbiners bereitet koscheren Tscholent zu und backt Plätzchen für die Besucher. Doch die Mitglieder des Schtiebls wollen mehr tun.

Über die Renovierung sagt Gabor Mayer (29), der Bruder von Andras Mayer: »Wir gehen sehr vorsichtig und respektvoll heran und nehmen uns eins nach dem anderen vor, um den Geist des Schtiebls am Leben zu halten. Wir wollen es so bewahren, wie wir es vor einem Jahrzehnt vorgefunden haben.« Es sei jedoch schwierig festzustellen, wie der Anstrich im Originalzustand ausgesehen hat, »denn es wurden sehr viele Farbschichten aufgetragen«, fügt Andras Mayer hinzu.

Guter Geist In einem ersten Schritt, so Andras, wurden die morsche Eingangstür und die kaputten Rohre ersetzt. Die Jakab-Glaser-Gedenkstiftung, benannt nach einem Mann, der in Mayers Worten den Minjan zusammengehalten hatte, wurde gegründet, um Geld für die Arbeiten aufzutreiben. Glaser, ein Zimmermann, der auch Glaser-Bácsi genannt wurde, ist vor Kurzem verstorben. »Noch im Alter von 92 Jahren hängte sich Glaser-Bácsi jeden Mittwoch ans Telefon, um einen Minjan für Samstagmorgen zusammenzutrommeln«, sagt Mayer. »Im Lauf der Jahre versammelte sich um ihn eine Schar junger Männer, die zur Synagoge kamen und nach dem Gottesdienst zusammen mit Glaser-Bácsi eine Konditorei in der Nähe aufsuchten, um sich bei Kaffee und Kuchen seine lustigen und schrecklichen Geschichten aus einer untergegangenen Welt anzuhören. »Wir liebten ihn für seinen Mut, sein Wissen und seinen Humor«, sagt Gabor Mayer, der anfing, im Schtiebl auszuhelfen und allmählich in eine Führungsrolle hineinwuchs.

Jetzt ist Gabor an der Reihe, herumzutelefonieren, damit ein Minjan zusammenkommt, auch wenn es heute nicht mehr so oft nötig ist, da eine wachsende Anzahl treuer Gemeindemitglieder pünktlich zum Gebet erscheint. Er hatte sich auch um Glaser persönlich gekümmert, ihn zum Arzt gebracht und seine Lotterielose gekauft.

Über die jungen Leute, die jetzt den Minjan wieder beleben, sagt Gabor Mayer: »Keiner von ihnen wird in einigen Jahren unsere Namen noch kennen. Genau wie wir nicht mehr wissen, wer die alten Leute auf den alten Bildern waren, Menschen, für die dieses Schtiebl ein wichtiger Teil ihres Leben war.« Aber das Schtiebl, fügt er hinzu, »wird weiterleben und genauso sein, wie es gestern war und immer sein wird.«

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