Marathon

Die 42,195 Kilometer von Sapporo

Marathonlauf bei den 1. Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen, zeitgenössisches Aquarell von Forestier Foto: picture-alliance / akg-images

Er gehört zu den Spielen und ist doch etwas ganz Eigenes: der Olympische Marathonlauf. Beides hat viel mit Michel Bréal zu tun, einem Juden aus Landau in der Pfalz, geboren 1832.

Dass am Samstag und Sonntag bei den Spielen die Marathonläuferinnen und -läufer im von Tokio mehr als 1000 Kilometer entfernten Sapporo antreten, liegt zwar nicht an Bréal, sondern an der unzumutbaren Hitze in Japans Hauptstadt. Aber dass man auf den Lauf über die berühmte Distanz nicht verzichten möchte, das ist sehr wohl Bréals Verdienst.

Michel Bréal gilt auch als Erfinder des olympischen Mottos »citius – altius – fortius«.

Der hatte nämlich 1894 seinem Freund, dem französischen Baron Pierre de Coubertin, den Vorschlag gemacht, einen solchen Lauf ins Programm aufzunehmen. Coubertin wollte die Olympischen Spiele der Neuzeit begründen, und Bréals Idee war »ein Lauf von Marathon nach Pnyx«, ein Hügel in Athen. »Das hätte einen antiken Geschmack«, wie er in einem Brief schrieb.

Motto Als Freund Coubertins und renommierter Philologe am Collège de France hatte Bréal 1894 am Olympischen Kongress teilgenommen. Er gilt auch als Erfinder des olympischen Mottos »citius - altius -fortius« (schneller, höher, stärker). Dort kam ihm der Gedanke, dass der antike Mythos den Olympischen Spielen eine besondere Attraktivität bieten könnte: der Mythos, dass ein griechischer Soldat namens Pheidippides 490 v.d.Z. nach dem Sieg der Athener über die Perser in das etwa 40 Kilometer entfernte Athen gelaufen sei, dort die Siegesbotschaft verkündet habe und dann vor Erschöpfung tot zusammengebrochen sei.

Bodenplatte in SapporoFoto: imago images/AFLOSPORT

Coubertin zögerte zunächst, den Vorschlag seines Freundes anzunehmen. Ihn soll gestört haben, dass der Tod eines Läufers kaum dazu angetan sein könne, sein Sportfest für die Jugend der Welt populär zu machen. Entsprechend setzte sich Bréal nur halb durch: Das Rennen vom Dorf Marathon in die Hauptstadt Athen – eine Strecke von etwa 40 Kilometern – fand am 10. April 1896 zwar statt, aber für den Sieger Spiridon Louis aus Griechenland gab es keine Medaille, sondern einen für Olympische Spiele völlig ungewöhnlichen Silberpokal, gestiftet von Michel Bréal.

Louis konnte aus seinem historischen Sieg aber noch mehr machen: Er erhielt vom griechischen König einen Pferdewagen, dazu noch 25.000 Drachmen, Schuhe, einen Anzug, und Königin Olga schenkte ihm Ringe. Vielleicht war da Bréals Siegerpokal noch die am wenigsten attraktive Ausbeute. Mittlerweile allerdings ist das anders: Louis’ Nachfahren versteigerten den Pokal 2012 während der griechischen Finanzkrise bei Christie’s für etwa 650.000 Euro.

Meriten Der Marathon gehört seither fest zum olympischen Programm. Nur Bréal geriet ein wenig in Vergessenheit. Dabei hat er auch abseits der Sportgeschichte große Meriten. Als Philologe hat er die moderne Semantik mitentwickelt. Er war ein beliebter Gastgeber in französischen Salons. Auch der spätere Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, der sein Schwiegersohn werden sollte, verkehrte dort.

»Das hätte einen antiken Geschmack«, schrieb er in einem Brief an seinen Freund Baron Pierre de Coubertin.

Zugleich gilt Bréal als einer der wichtigsten Reformer des französischen Schulwesens. Die École Alsacienne in Paris, die seit ihrer Gründung 1874 nie religiös ausgerichtet war, die Französisch gegenüber Latein im Sprachunterricht favorisierte und schon ab 1908 Mädchen und Jungen nebeneinander lernen ließ, geht auf Bréal zurück.

Das ist nicht gerade wenig für einen jüdischen Jungen aus der pfälzischen Provinz, der ab dem achten Lebensjahr ohne Vater aufwuchs. Bréals Vater war als Rechtsanwalt tätig; als er 1840 starb, lobte ihn Rabbiner Elias Grünebaum als einen Mann, der stets antijüdische Vorurteile zu widerlegen suchte. Die Mutter Karoline Bréal zog bald ins französische Metz und verschaffte ihrem Sohn eine Ausbildung an der renommierten École normale supérieure in Paris. Da wurde aus Michael Michel und aus Breal Bréal, der später auch in Berlin studieren sollte.

Gute deutsch-französische Beziehungen waren Bréal zeit seines Lebens wichtig. Nach dem preußischen Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kritisierte er den »Frankfurter Frieden«, vor allem die Abtretung der ostfranzösischen Gebiete an Deutschland. Bréal plädierte für einen neutralen Staat Elsass-Lothringen.

Vielfalt Seit 2008 gibt es in seiner Geburtsstadt Landau eine Michel-Bréal-Gesellschaft, die die Vielfalt seines Wirkens deutlich machen will: »die Rolle und die Wirkung Bréals in Linguistik, Geschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft«, wie es auf der Website heißt, »sowie die aufgezeigten Brücken für grenzüberschreitendes Denken zu nutzen und auszubauen«.

Die Olympische Bewegung verdankt ihre mittlerweile konkurrenzlose Stellung im Weltsport ganz wesentlich ihrem von Coubertin - und eben auch von seinem Freund Michel Bréal - entwickelten Bezug zu höheren antiken Werten. Speziell der Marathonlauf ist mittlerweile kein rein olympisches Phänomen mehr.

Als Bréal um 1894 die Idee zu einem Rennen von Marathon nach Athen hatte, waren Langstreckenläufe bereits sehr populär.

Als Bréal um 1894 die Idee zu einem Rennen von Marathon nach Athen hatte, waren Langstreckenläufe bereits sehr populär: Der Pedestrianismus, so der Fachbegriff, war die Tätigkeit von Berufssportlern, die gegen Geld an Langstreckenwettbewerben oder Schaulaufen teilnahmen. Das waren teils 24-Stunden-Rennen oder Wettkämpfe von 20, 50 oder 70 Kilometer Entfernung oder sogar Mammutwettbewerbe wie ein Mehrtageslauf von Mailand nach Barcelona.

Antike Es war Bréals Idee, mit dem Bezug auf den antiken Mythos diesen Rennen sowohl eine Idee als auch eine leidlich normierte Länge von 40 Kilometern zu geben, die dem Marathon zum Siegeszug verhalf. Dass es mittlerweile auf der ganzen Welt exakt 42,195 Kilometer sind, hat freilich weder mit Michel Bréal noch mit der Antike zu tun.

Die bis zu den Olympischen Spielen 1908 in London übliche Marathondistanz war 25 Meilen, umgerechnet 40,23 Kilometer, aber nach der Vermessung der Strecke merkte man, dass bis zum Schloss Windsor noch eine Meile fehlte – und von dort bis zur königlichen Loge, wo das Rennen enden sollte, noch ein paar Meter. Seither sind es 42,195 Kilometer.

Michel Bréal hat diese Neuerung an seiner Idee noch mitbekommen. Bis zu seinem Tod 1915 lebte und arbeitete er in Paris. Beerdigt wurde er auf dem Friedhof Montparnasse.

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