Olympia

Der Schwimmer aus der Wüste

Ein Mal täglich Training im Kraftraum: Imri Ganiel Foto: imago

Er hat ein offenes Gesicht, manchmal wandern seine Augen unsicher umher. Am kräftigen Körper trägt er nur eine Schwimmhose und ein weißes T-Shirt. So steht Imri Ganiel am Rand eines Schwimmbeckens und gibt ein Fernsehinterview. Der 20-Jährige wird dort als israelische Hoffnung für London vorgestellt, und seine Anspannung verrät: Dieser Start beim 100-Meter-Brustschwimmen der XXX. Olympischen Spiele bedeutet für den jungen Mann einen riesigen Sprung.

familientradition »Ich komme aus Omer«, erzählt Ganiel dem Interviewer. »Das liegt in der Mitte der Wüste.« Nicht gerade der Ort, in dem man gute Schwimmer sucht. Mit acht Jahren habe er angefangen zu schwimmen, »weil das doch jeder in der Stadt getan hat«. Mit zwölf Jahren begann er mit dem Leistungssport, und daraus wurde eine sehr ungewöhnliche Karriere.

Wenn Imri Ganiel am Samstag, den 28. Juli, kurz nach 11 Uhr vormittags seinen Vorlauf über 100 Meter Brust bestreitet, gelingt ihm etwas, das seinem Vater vor 32 Jahren verwehrt war. Amir Ganiel hatte sich 1980 als Krauler für die Olympischen Spiele in Moskau qualifiziert, doch Israel schloss sich damals wegen der sowjetischen Afghanistan-Intervention dem Boykott vieler westlicher Staaten an. »Mein Vater hat wegen der Politik nicht teilnehmen können, das ist doch eine Schande«, sagt Imri. »Ich hoffe, dass er stolz darauf ist, was ich heute mache.«

rivalität Doch auch beim jungen Ganiel spielte Politik mit. Im Mai hatte der israelische Schwimmverband ihn für die Europameisterschaften in Ungarn nominiert, dem bedeutendsten Qualifikationswettkampf für die Olympischen Spiele. Aber Imri war damals nur der zweitbeste Brustschwimmer des Landes. Schneller war Jowan Qupty, ein arabischer Israeli aus Jerusalem, Sohn eines Nazarether Rechtsanwalts. »Mein Sohn träumt davon, Israel zu repräsentieren, aber der Verband will ihn nicht zu den Europameisterschaften schicken, weil er Araber ist«, schimpfte Mazen Qupty. Sein 22-jähriger Sohn sah das gelassener, weigerte sich, von Rassismus zu sprechen, und verwies stattdessen auf einen Konflikt zwischen seinem Team, »Jerusalem United«, und »Hapoel Jerusalem«, für das Ganiel startet. »Ich rede nicht davon, Imri von dem Wettkampf auszuschließen. Ich bitte die Leute vom Verband nur, das Richtige zu tun und uns beide zu schicken«, appellierte Jowan Qupty.

Nach vielem Hin und Her, einem Verbandsschiedsverfahren und einer aufwendigen Mediation geschah das auch: Beide fuhren zu den Europameisterschaften im ungarischen Debrecen. Dort schlug die große Stunde des Imri Ganiel, genauer gesagt: die große Minute. Als Vorlaufschnellster in 1:00,96 Minuten, einem neuen israelischen Rekord, erreichte er das Finale über 100 Meter Brust und wurde dort Sechster. Sein Rivale Jowan Qupty hatte Pech und wurde im Vorlauf disqualifiziert. So erhielt Imri Ganiel sein Olympiaticket – und alle Debatten, ob er damit einen nur wegen Ressentiments unerwünschten Palästinenser verdrängt hätte, waren vom Tisch. Ganiel war das sehr recht. »Ich habe versucht zu beweisen, dass ich das Recht habe anzutreten«, sagte er nach dem Rennen. »Jowan ist wirklich ein guter Schwimmer. Bei den israelischen Meisterschaften hat er mich ja über 200 Meter Brust geschlagen, was mir aber nichts ausmacht. Ich habe ja meine 100 Meter.«

politik Nicht nur Jowan Qupty musste Imri Ganiel schlagen, auch Gal Nevo, der schon 2008 in Peking dabei war und 2009 bei der Makkabiade Gold gewonnen hatte, wollte nach London. Vor einem Jahr war Gal Nevo unfreiwillig in die Schlagzeilen gekommen, weil sich bei den Weltmeisterschaften in Shanghai der Iraner Mohammed Alirezaei geweigert hatte, gegen ihn anzutreten. Nevo hatte das damals damit kommentiert, dass er immerhin besser als ein syrischer und libanesischer Schwimmer gewesen sei – »jeder Israeli weiß, dass du Araber schlagen musst«. Ein arabischer Knesset-Abgeordneter warf dem Schwimmer deswegen Rassismus vor.

Auch Jowan Qupty war entsetzt. »Warum spielt das eine Rolle, ob du gegen einen Juden, einen Araber oder einen Inder antrittst?« Qupty will anders sein, er trat als Nichtjude bei der Jugendmakkabiade an, und er versteht seinen Sport als Beitrag zur Integration der arabischen Bevölkerung. »Ich bin ein Sportler, der wirklich den Erfolg will, aber ich will auch den Staat und die arabische Gemeinschaft in Israel repräsentieren. Wir hatten noch nie einen Araber, der Israel bei den Olympischen Spielen vertrat«, sagte er im Mai in einem Interview, als er noch Hoffnung hegte, bei den Spielen dabei zu sein.

team Mittlerweile steht fest, dass Imri Ganiel der einzige israelische Brustschwimmer in London sein wird. Überhaupt ist das Schwimmteam klein: eine Schwimmerin, Amit Ivri aus Emek Hefer, und fünf Männer, von denen der aussichtsreichste Medaillenkandidat, der Rückenschwimmer Jonathan Kopalev, zwei Wochen vor den Wettkämpfen wegen einer Blinddarmreizung ins Krankenhaus musste. Bei der EM in Debrecen war Kopelev Europameister über 50 Meter Rücken geworden. Imri Ganiel hofft auf ihn für die 4-mal-100-Meter-Lagenstaffel. »Ich habe Jonathan im Krankenhaus besucht. Er kann schon wieder gehen und sagt, dass die Schmerzen nachgelassen haben«, berichtet er. »Er unternimmt alles, um gut zu schwimmen. Glaubt nur an ihn.«

Zukunftspläne So wie Imri Ganiel an sich selbst glaubt. Er hat mittlerweile sogar schon die Weichen für die Zeit nach den Spielen in London gestellt: Der Schwimmer wird an der University of Texas in den USA studieren. Beim dortigen College-Sport freut man sich schon über den guten Brustschwimmer, der sich in Israel an hartes Training gewöhnt hat: zwei Mal täglich im Wasser, ein Mal täglich im Kraftraum.
Doch vor Texas liegt London. Dass es dort keine offizielle Gedenkminute für die Opfer des Massakers von 1972 in München geben wird, empört Ganiel. »Nur weil sie Israelis und Juden waren!« ruft er aus. Das sei eine Schande. Ansonsten ist Ganiel schon sehr aufgeregt, sagt er. Ob er die Möglichkeit haben wird, an der Eröffnungsfeier teilzunehmen, wusste er wenige Tage vorher noch nicht zu sagen. Schließlich ist sein 100-Meter-Brust-Vorlauf schon am Vormittag des folgenden Tages. Und an diesem Tag entscheidet sich, wie es mit dem Schwimmer aus der Wüste weitergeht.

Spanien

Mallorca als Vorbild

Das Stadtparlament von Palma hat eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet – anders als der Rest des Landes

von Sabina Wolf  26.07.2024

Sport

Der Überflieger

Artem Dolgopyat ist in Israel ein Star. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gewann der Turner Gold, 2023 wurde er Weltmeister. Nun tritt er in Paris an

von Martin Krauß  26.07.2024

Europäisches Parlament

»Zittert. Das hier ist nur der Anfang«

Die frisch gebackene französische Abgeordnete Rima Hassan hetzt gegen Israel

von Michael Thaidigsmann  25.07.2024

Ausstellung

Olympioniken im KZ Buchenwald

Auf dem Ettersberg bei Weimar treffen unterschiedlichste Biografien aufeinander

von Matthias Thüsing  25.07.2024

Frankreich

»Man ist schließlich französisch«

Ganz Paris feiert die Olympischen Spiele. Ganz Paris? Nicht alle Juden fühlen sich vom erwünschten »Wir-Effekt« angesprochen. Denn das Land bleibt zerrissen

von Sophie Albers Ben Chamo  25.07.2024

USA

Die zweite Wahl?

Mit dem Rückzug von Joe Biden und der Kandidatur von Kamala Harris könnte das Rennen um die Präsidentschaft noch einmal richtig spannend werden

von Michael Thaidigsmann  24.07.2024

Jüdische Emigration

Die Niederlande - Ein Ort der Zuflucht für Juden?

Die Historikerin Christine Kausch nimmt das Leben jüdischer Flüchtlinge in den Blick

von Christiane Laudage  24.07.2024

Vor 80 Jahren

Von Rhodos nach Auschwitz

1944 wurden 2000 Jüdinnen und Juden von Rhodos nach Auschwitz deportiert. Nur wenige überlebten

von Irene Dänzer-Vanotti  23.07.2024

Jerusalem

Nach Gaza entführter Holocaust-Experte für tot erklärt 

Der Historiker Alex Dancyg ist in der Geiselhaft umgekommen

 22.07.2024