USA

Der Rebbe im Minirock

Das Bild von Abby Stein, das man im Kopf hat, wird erschüttert, wenn man der jungen Frau zum ersten Mal begegnet. Ihr eleganter Gang, der feminine Charme und dazu diese Entschlossenheit! In all ihren Bewegungen spürt man, dass die 25-Jährige ihre außergewöhnlichen Erfahrungen hinaus in die Welt tragen will. Sruly, wie sie von ihren Eltern einst liebevoll genannt wurde, strotzt vor Energie.

Aber welches Bild könnte der weltweit einzigen chassidischen Rabbinerin gerecht werden? Sie lächelt, zupft ihren schwarz gestreiften Minirock zurecht und sagt heiter: »Ich habe nach meinem Studium an der Jeschiwa zwar eine Smicha erhalten, aber ich benutze den Rabbinertitel nicht.«

Dies mag die Wischnitzer Chassiden im Brooklyner Stadtteil Williamsburg nur bedingt beruhigen. Denn als sie Abby mit dem prestigeträchtigen Titel »Joreh Joreh, Jadin Jadin«, also eines rabbinischen Gelehrten und Richters, auszeichneten, war sie noch ein Mann. »In der Zwischenzeit wurden alle meine persönlichen Dokumente geändert, nun bin ich auch rechtlich gesehen weiblich«, erzählt Abby.

Diskrepanz Allein der Reisepass bereitet noch Schwierigkeiten, so auch kürzlich bei ihrer Einreise nach Deutschland, wo sie an einer internationalen jüdischen Konferenz in Berlin teilnahm. Die verdutzten Passkontrolleure wussten zunächst die Diskrepanz von einem auf einen Mann ausgestellten Pass und Abbys offensichtlicher Weiblichkeit nicht zu erklären.

»Ein deutsches Problem«, kommentiert sie den kleinen Vorfall und winkt ab. »In Israel sind die Behörden mit solchen Identitätsvariationen schon vertraut.«

Zuerst versuchte Abby es den Polizisten auf Englisch zu erklären, dann auf Jiddisch – vergeblich. Ihren Anschlussflug hatte sie längst verpasst. Doch dank mehrerer Anrufe von bedeutenden Leuten konnte sie schließlich weiterfliegen und am nächsten Tag bei der Konferenz in Berlin einen Vortrag über Judentum und Transgender beisteuern.

Und Abby hat durchaus etwas beizusteuern. Sie ist nicht nur Board-Mitglied der Jewish Queer Youth, sondern auch aktiv in verschiedenen Unterstützergruppen für Menschen aus der jüdischen Orthodoxie, die dabei sind, ihre Identität neu zu definieren, so etwa die LGBT-Organisation Eshel und das Aussteigerforum Footsteps. Daneben führt Abby eine Facebook-Gruppe für orthodoxe Transgender-Männer und -Frauen, die regelmäßige Treffen organisiert.

Berühmtheit Als Abby vor rund zwei Jahren mit ihrer besonderen Geschichte an die Öffentlichkeit trat, interessierten sich auf Anhieb die New York Times, CNN und Fox News für die neue Berühmtheit aus Brooklyn.

Doch was bedeutet es, ein gelebtes jüdisches Bewusstsein zu bewahren und zugleich eine Transgender-Aktivistin zu sein? »Judentum und Transgender sind eng miteinander verwoben«, pflegt die mitreißende Rednerin ihren Zuhörern zu erläutern. »Der Talmud kennt allein sechs verschiedene Geschlechtsidentitäten, darunter zwei, die weder der Sphäre des Männlichen noch der des Weiblichen eindeutig zugeordnet werden können.«

Und noch weitere Zeugen weiß der ehemalige Rabbiner anzurufen. So etwa den mittelalterlichen Gelehrten Kalonymos ben Kalonymos, der in seinem Werk Ewen Bochan über sich selbst sagt: »Würdest Du, mein Gott, mich doch von einem Mann zur Frau wandeln (…). Eine gütige Hausfrau wäre ich dann, (…) doch mein Vater im Himmel schuf mich mit einem festen Makel, so kann es nicht von mir genommen werden.«

Doch Abby wollte mehr. Seit ihrer Jugend ist kaum etwas beim Alten geblieben. »Alles hat sich verändert. Judentum und Transgender sind zwei miteinander verbundene Antriebe in meinem Leben. Zwar bin ich nicht die erste Transgender-Jüdin, doch habe ich diese Verbindung erstmals in die chassidische Welt hineingetragen.«

Abby sieht darin »einen revolutionären Kreisschluss«, denn sie ist eine direkte Nachfahrin des Baal Schem Tow, des Begründers des Chassidismus. Der Bescht, wie er auch genannt wird, rebellierte im 18. Jahrhundert gegen die eingerosteten Rabbinatsstrukturen der jüdischen Welt Osteuropas.

Die junge Aktivistin strebt weniger nach Akzeptanz vonseiten der Ultraorthodoxie, denn die wird ohnehin nicht zu erreichen sein. Abby Stein geht es vielmehr darum, das Phänomen Transgender in den Gemeinden sichtbar zu machen, um anderen jungen Menschen zu helfen, die damit ringen.

Kindheit Bereits in jungen Jahren merkte Abby, dass sie eigentlich ein Mädchen ist. »Meine ältesten Erinnerungen kreisen um diesen Gedanken«, fasst sie ihren aufregenden Werdegang zusammen. Es ist eine ungewöhnliche biografische Entwicklung für das sechste von 13 Kindern einer jiddischsprachigen Familie in Williamsburg.

Seinen Eltern konnte das im Körper eines Jungen gefangene Kind dies nicht so leicht klarmachen. »Sie dachten, ich sei schwul, doch tatsächlich bin ich bisexuell, wobei meine Hauptneigung Frauen gilt.« Um Verwirrungen jeglicher Art vorzubeugen, setzt sie nach: »Gender und sexuelle Orientierung haben nichts miteinander zu tun. Gender bezeichnet, was ich sein will; sexuelle Anziehung aber definiert, mit wem ich sein will.«

Der entschlusskräftigen Abby war schon immer klar, was sie sein wollte, auch, als sie noch Yisroel Avrum hieß. Sie erinnert sich daran, dass sie als Fünfjährige versuchte, sich in der heimlichen Abgeschiedenheit der Badewanne in ihrem Schambereich zu verletzen. Denn sie fühlte, dass dort etwas nicht am Platz war. Als ihre Mutter sie dabei erwischte, erntete sie einen verstörenden Blick.

Jeschiwe-Bocher Und so hüllte sie sich für die weiteren Jahre ihrer innerlich aufgewühlten Kindheit und Jugend in Schweigen. Bis 2011 folgte sie dem Willen ihrer Gemeinschaft und lernte an einer Jeschiwa der Wischnitzer. Dabei war sie immer ein guter Jeschiwe-Bocher. »Ich hatte einen einwandfreien Ruf.«

Doch auch der strenge Lernrhythmus der talmudischen Hochschule dämpfte ihre Sehnsucht nicht. Schon früh hatte sie ausufernde Fragen und beschäftigte sich tiefgehend mit kabbalistischer Literatur, die man jungen Torastudenten eigentlich nicht in die Hand gibt. »Die jüdische Mystik lehrte mich, dass sexuelle Identitäten fließend ineinander übergehen.«

Daneben stellte sie sich Autoritäten zunehmend skeptisch entgegen. »In der achten Klasse lernten wir aus dem Traktat Gittin über allerlei Dämonen und wie man sie sichtbar machen könne. Mit viel Chuzpe fragte ich den Lehrer, ob ich die Techniken denn zu Hause ausprobieren könne, wobei ich andeutete, dass wir beide ja eigentlich nicht daran glaubten. Da warf er mich mit der Bemerkung aus der Klasse, wenn ich so weitermachen würde, werde ich irgendwann ›off the derech‹ sein, also den Weg der Tora verlassen.«

Diesen Vorzeichen zum Trotz folgte sie zunächst den üblichen Bräuchen und heiratete mit 18 Jahren eine junge Frau, die man ihr vermittelt hatte. Bald darauf wurde ein Sohn geboren. Der Einzug in ein eigenes Haus ermöglichte ihr uneingeschränkten Zugang zum Internet. So surfte sie durch die Weiten der Gender-Forschung, um sich über ihre zerrüttete Identität Klarheit zu verschaffen.

»Als ich das erste Mal einen Browser öffnete, konnte ich noch kein Wort Englisch schreiben. Auf Hebräisch tippte ich ganz unüberlegt eine grob formulierte Idee wie ›Mann wird Frau‹ ein. Sofort landete ich bei Wikipedias hebräischem Eintrag zur Transsexualität. Da verstand ich: Ich bin nicht allein.«

Scheidung 2012 endete dann alles. Die Ehe wurde geschieden, und die Aussteiger-Organisation Footsteps, in der sich Abby bis heute engagiert, half ihr beim Bruch mit der Vergangenheit und dem Einleben in eine säkulare Wirklichkeit, während ihre Exfrau einige Monate später erneut heiratete.

Im September 2015 begann schließlich die Hormonersatztherapie. »Diesen Tag werde ich niemals vergessen«, sagt Abby Stein. Von da an trug sie feminine Kleidung.

Wie sie betont, hat sie die strenge Orthodoxie ihrer Jugend nicht verlassen, um ihre Gender-Identität zu wechseln, sondern aus tieferen Überlegungen heraus. »Sicherlich hat mich die Suche nach meiner Identität angespornt, immer nachzuhaken. Doch als ich mich entschied, mit meinem Milieu zu brechen, habe ich an das meiste schon nicht mehr geglaubt.«

Wer Abby fragt, wie viele Inhalte des Judentums sie heute noch teilt, dem antwortet sie: »Ich denke einfach nicht darüber nach.«

In der Praxis ist Abby allerdings noch engagiert dabei. »Kerzenzünden vor dem Schabbat mag ich sehr – überhaupt den jüdischen Jahres- und Lebenszyklus. Ich finde die Idee eines wöchentlichen Ruhetages kulturell sehr spannend, doch lasse ich mir den Fernseher nicht mehr verbieten.« Auch die aschkenasische Küche, Tscholent und Kugel, mag sie noch immer sehr, »ob nun koscher, koscher-style oder ...« Nach einer kurzen Pause ergänzt sie: »Auch nicht koscher«.

Entsprechend bunt ist ihr Synagogengeschmack: Die Jewish Renewal-Synagoge Romemu in New York zählt die junge Transgender-Aktivistin heute zu ihren regelmäßigen Betern. »Dort hatte ich auch meine späte Batmizwa«, berichtet sie. Jewish Renewal versteht sich nicht als Teil des Reformjudentums, sondern als denominationslos und neo-chassidisch.

Bei Romemu treffen sich jeden Schabbat einige Hundert Beter, wobei nicht alle früher orthodox waren. »Die Hintergründe sind sehr gemischt. Alle sind willkommen, auch wer gar nicht religiös oder nicht ganz jüdisch ist«, erklärt Abby die Zusammensetzung der Gemeinde. Dennoch ist der Ritus traditioneller als in Reformsynagogen. »Der Rabbiner benutzt zwar ein Mikro am Schabbat, doch verzichtet er auf sein Handy.« Man versuche, die jüdische Tradition individuell zuzuschneiden.

Und was würde der Baal Schem Tow zu alldem sagen? »Ich bin überzeugt, dass er stolz auf mich wäre.« Immerhin lasse sich seine Lehre in wenigen Worten zusammenfassen: Folge dem Herzen, widersetze dich dem Establishment, auf dass jeder auf seine Weise leben kann.

Moderne In der Nähe der Romemu-Synagoge befindet sich die renommierte Columbia University, an der sich Abby vor drei Jahren in Gender Studies einschrieb. Zuvor brauchte sie eine Weile, um sich an das moderne Amerika zu akkulturieren. Denn in einer neuen Umwelt zurechtzukommen, ist nicht leicht.

»Aus dem Schtetl zu kommen, bedeutet, dass man die nichtjüdische Lebensdimension nur ungenügend kennt. Dies betrifft die englische Sprache, aber auch, wie man in einem modernen Geschäft einkauft.«

An diese Umstände lehnte sich auch die Rückholstrategie ihres alten Umfelds an: Eltern und Verwandte, Freunde und Bekannte – alle versuchten Abby einzureden, dass sie außerhalb ihrer Gemeinschaft niemals erfolgreich sein könne. Doch sie ließ sich nicht beirren.

Drei Jahre lang gab sie sich ihren Lehrbüchern hin, um einen späten, vollwertigen Schulabschluss nachzuholen. Und als sie versuchte, an der Uni aufgenommen zu werden, fiel es ihr schwer, dem Aufnahmegremium zu erklären, was es bedeutet, aus einer Welt ohne Fernseher und Kino zu kommen. »Es war für die so, als käme ich aus dem 18. Jahrhundert. Doch als ich meine besondere Situation darlegte, nahmen sie mich sofort auf.«

Buchprojekt Im Moment stürzt sie sich in ihre Arbeit. Neben dem Uni-Abschluss muss auch der Ausbau ihrer Support-Group gelingen. Und auch ein größeres Buchprojekt steht noch an: eine Art Autobiografie. Danach möchte Abby einen öffentlichkeitswirksamen Beruf finden, vielleicht in einer NGO.

Zu ihren Eltern und den zwölf Geschwistern hat Abby heute wenig Kontakt. Nur zu einem Bruder und einer Schwester konnte sie die Verbindung trotz aller Umbrüche aufrechterhalten. Allerdings würde sie die alten Beziehungen gerne von Neuem aufbauen. »Familie bleibt Familie. Doch für die ist das nicht so einfach.«

Seit einiger Zeit lebt Abby in einer Beziehung mit einer Frau. Viel mehr möchte sie nicht verraten. »Das ist Privatsache.« Über Sexualität sollte man nicht viel sprechen, meint sie. Und eigentlich auch nicht über Gender. »Doch auf diesem Gebiet besteht immer noch großer Bedarf, Vorurteile abzubauen. Denn die Gesellschaft muss sich positiv weiterentwickeln.«

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